Bei einer Annäherung an die Person Carles Puigdemont sollte man zunächst einen Blick auf die Geschichte Kataloniens werfen. Entgegen gängigen Vereinfachungen war Katalonien kaum jemals ein souveräner politischer Akteur, sondern immer wieder Spielball von Interessen europäischer Königshäuser, dazu Objekt ihrer Eroberungen: vom Königreich Aragón zur kastilischen Monarchie, dann wieder unter österreichischer, niederländischer oder französischer Herrschaft (das Département Pyrénées-Orientales bildete historisch den nördlichen Teil Kataloniens). Der gegenwärtige Kampf um Unabhängigkeit ist hier einzuordnen – eine Fortsetzung des Ringens um Identität. Und wenn der heutige spanische Staat Kataloni
onien als einen seit jeher integralen Bestandteil eines „spanischen Vaterlandes“ ausgibt, ist das schlichtweg Geschichtsfälschung.In ebendieser historischen Zerreißprobe zwischen den Mächten ist die katalanische Identität gewachsen und hat sich auch ohne politische Souveränität gefestigt. Zu ihren entscheidenden Elementen gehören die katalanische Sprache und Kultur, für die der katholische Glaube stets eine entscheidende Rolle spielte, als offenes und engagiertes Bekenntnis. Nicht zufällig genießen in Katalonien das Zweite Vatikanische Konzil und der jetzige Papst Franziskus eine hohe Wertschätzung.Auf diesen Glauben, eine spezifisch linke Variante der katholischen Religion, stößt man bei katalanischen Politikern, was nach deutschen Kriterien als eher abwegig erscheinen würde. Das gilt nicht zuletzt für den 60-jährigen Carles Puigdemont. Im Jahr 1962 in die einfachen Verhältnisse einer Familie mit acht Kindern hineingeboren – der Vater war Konditor –, verbrachte er als junger Mann mehrere Sommer im Zisterzienserkloster Poblet. Wie er erzählt, zog ihn die dortige Spiritualität an, gepaart mit der Offenheit und Toleranz der Mönche. Die Institution Kirche sah er hingegen durchaus kritisch.Andererseits: Puigdemont ist mit der rumänischen Journalistin Marcela Topor verheiratet (weshalb er außer Katalanisch, Spanisch, Französisch und Englisch auch Rumänisch spricht), beide legten Wert auf eine kirchliche Trauungszeremonie, sowohl die römisch-katholische, zelebriert in Katalonien, als auch die christlich-orthodoxe, zelebriert in Rumänien.Carles Puigdemont soll wegen „Terrorismus“ angeklagt werdenSicher schriebe man es in Deutschland der Imagepflege zu, wenn Puigdemont, in einem Interview gefragt, was er bei seiner Arbeit als Bürgermeister von Girona, der ersten Station seiner Karriere, am befriedigendsten fand, darauf antwortet: „Das ist sehr intim. Personen helfen, denen es schlecht geht, ihnen in dramatischen Situationen ein bisschen Wärme geben.“ Das deckt sich mit seiner Aussage, christlicher Glaube sei für ihn das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.Ein weiterer möglicherweise irritierender Aspekt bei dem Versuch, sich Puigdemont zu nähern, sind sicher die Parteien, in denen er aktiv wurde. Mit 18 Jahren – er verdiente sein Geld als Fußballreporter einer kleinen Zeitung – trat er der Partei Convergència Democràtica de Catalunya (CDC) bei, damals vom katholisch-konservativen Jordi Pujol geführt, der 23 Jahre lang Regierungschef Kataloniens war. Diese Gruppierung fusionierte mit der christdemokratischen Unió Democràtica de Catalunya (UDC) zur Convergència i Unió (CiU). Aus dieser wurde später Junts per Catalunya, die Puigdemont als Wahlallianz schließlich zum Präsidenten Kataloniens machte. Seine Regierung wurde bis zu ihrer Amtsenhebung nach dem Unabhängigkeitsreferendum von 2017 von der linken und anarchistischen Candidatura d’Unitat Popular (CUP) unterstützt. Im belgischen Exil gründete Puigdemont dann auch noch den Consell de la República Catalana, den Rat für die katalanische Republik. Das Entstehen, Verschwinden und Verändern von Parteien im Leben Puigdemonts erinnert an das Wechselhafte in der Geschichte Kataloniens. Was daran erratisch scheint, kann auch als steter Kampf um eine politische Identität verstanden werden.Seit in der vergangenen Woche Pedro Sánchez als Regierungschef Spaniens wiedergewählt wurde – und das mit den Stimmen der katalanischen Parteien –, kann Puigdemonts Junts per Catalunya einen denkwürdigen Erfolg verbuchen. Die Neuauflage der „Fortschrittsregierung“ aus Sozialisten und Linksbündnis Sumar gibt es nur, weil eine Amnestie in Aussicht steht. Sie betrifft Angeklagte wie Verurteilte des als nicht gesetzeskonform eingestuften Katalonien-Referendums vom 1. Oktober 2017. Der vorliegende 23 Seiten umfassende Gesetzentwurf begründet in einem langen Vorspann Sinn und Notwendigkeit eines Straferlasses als Instrument, um die Gesellschaft zu befrieden.Wird Carles Puigdemont demnächst ohne Angst vor Repressalien nach Spanien zurückkehren können? Wohl kaum. Der berühmt-berüchtigte Richter Manuel García Castellón (der Freitag 31/2021) will ihn nunmehr des „Terrorismus“ anklagen, der als Tatbestand nicht unter eine Amnestie fallen soll. Außerdem wird die rechte Volkspartei (PP) versuchen, das Amnestiegesetz im Senat, in dem sie die Mehrheit hat, so lange wie möglich zu blockieren.