Auf Augenhöhe

Theater Anta Helena Recke steht für eine neue Bühnen-Generation. Selbstbewusst und lässig inszeniert sie am Maxim Gorki Theater Olivia Wenzels „1.000 Serpentinen Angst“
Ausgabe 35/2021

Zwei Kinder in zu großen Stöckelschuhen spielen Fangen. Trifft das Mädchen sein Blick, muss sie erstarren oder sie hat verloren. Wortlos, aufs Spiel konzentriert und im Moment versunken, geht dieser Prolog von Anta Helena Reckes Inszenierung 1.000 Serpentinen Angst am Berliner Maxim Gorki Theater vonstatten. Sinnbildlich steht er für die Sehnsucht, die schon in der Spielvorlage steckt, in Olivia Wenzels gleichnamigem, viel beachtetem Debütroman. Die Hauptfigur wünscht sich ihren Bruder zurück. Umgebracht hat er sich. Mit 17. Allein ist sie zurückgeblieben. Und sucht ihren Weg durchs Leben.

Traumatisierende Übergriffe hat die junge Schwarze ostdeutsche Frau erlebt. Am Bahnhof wurden sie und ihr Bruder (Moses Leo) von einem Neurechten angebrüllt, am Badesee fürchtet sie die rechten Schläger. Angststörungen prägen ihren Alltag, mit Medikamenten geht es besser. Exemplarisch steht die namenlos bleibende Protagonistin für die Realität mehrfacher Diskriminierung. Einerseits. Andererseits fächert Olivia Wenzel die ganz normale Komplexität, das Anti-Stereotyp einer Biografie auf. Ihre Hauptfigur genießt ihre Privilegien, führt ein Großstadtleben, kommt finanziell mit Telefonmarketing und als Vertretungslehrerin über die Runden, reist nach New York.

Punkerin im Stasi-Knast

Vieldimensional erklärt werden auch ihre Ängste. Rassismuserfahrungen, der Verlust des Zwillingsbruders, der unharmonische Familienhintergrund – es ist eine Mixtur inneren Druck erzeugender Ereignisse. Zur Mutter hat sie kaum noch Kontakt. Als Punkerin stand die Mutter quer zum DDR-System, wollte raus aus dem Land, hätte dafür ihre Kinder bei den Großeltern zurückgelassen. Und landete im Stasi-Knast. Ihr Vater? Ist kurz nach ihrer Geburt zurückgegangen nach Angola. Besucht haben sie einander nie. Und dann ist da noch Kim (Hanh Mai Thi Tran), die Ex-Freundin, mit der Schluss ist – aber abgeschlossen mit der Beziehung haben beide nicht. Etliche Brüche in einem Leben.

Der Roman ist über weite Strecken als (Selbst-)Befragung der Protagonistin angelegt. Das ist ideal fürs dialogische Theater. Fokussiert auf die Familiengeschichte, erzählt die Inszenierung ausgewählte Episoden, spielt sie auf der Bühne sparsam szenisch an. Anfangs chorisch gesprochen, werden nach und nach die Rollen klar. Shari Asha Crosson gibt die Hauptfigur fröhlich und gelöst. Seelenzustände werden körperlich angedeutet, sachlich und episch ist der Ton, leidvolles Pathos oder übersprudelnde Coming-of-Age-Gefühle sind, wie im Roman, allenfalls momentweise angebracht. „So ist das Leben, machen wir das Beste draus“, schwingt als Botschaft mit in der Inszenierung, die auf (Deutungs-)Offenheit setzt statt aufs Psychologisieren wie im bürgerlichen Kammerspiel. Was bisweilen allzu konfliktfrei wirkt. Gerahmt wird die Aktion von Marta Dyachenkos stylischer Szenografie. Monochrome, popbunte Farbflächen und (schwarz-)weißes Rauschen werden auf die monumentalen Bühnenelemente projiziert.

Ansprechend als ästhetisches Ereignis, ist Anta Helena Reckes 1.000 Serpentinen Angst auch in der Produktionsweise exemplarisch. In einem noch immer weiß geprägten Theaterbetrieb, der seit Jahren über Rassismus debattiert, ist die Inszenierung ein Beweis, dass Diversität möglich ist. Beiläufig und zugleich sorgfältig zusammengestellt wirkt die Besetzung, die auf Entsprechungen zwischen den kulturellen Hintergründen der Spieler*innen mit ihren Figuren achtet, dies aber nicht weiter thematisiert. Überhaupt kommt die Inszenierung lässig und selbstbewusst daher – da ist sie, die neue Generation am Stadt- und Staatstheater, die intersektionales Denken, Multiperspektivität und Arbeiten auf Augenhöhe im Alltag anstrebt.

Die 1989 in München geborene Deutsch-Senegalesin Anta Helena Recke steht beispielhaft für diese Entwicklung. Mit ihrer „Schwarz-Kopie“, einer Adaption von Josef Bierbichlers autobiografischem Generationenroman Mittelreich, die exakt der Inszenierung der Regisseurin Anna-Sophie Mahler entsprach, aber durchweg Schwarze Schauspieler:innen besetzte, wurde sie 2017 als Shootingstar gefeiert. Die Kränkungen der Menschheit, das den westlichen Blick hinterfragte und eine Utopie vielfältigen Zusammenlebens schuf, war 2020 ebenfalls zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Utopisch endet auch 1.000 Serpentinen Angst, die Zeiten überbrückend, eine Familienversöhnung imaginierend. „Was gäbe ich dafür, meiner Großmutter und meiner Mutter zu einem unmöglichen Zeitpunkt zu begegnen, an dem wir alle 15 Jahre alt wären“, heißt es im Roman. Im Gorki tanzen die drei jungen Spielerinnen, die die Protagonistin, ihre Mutter und ihre Großmutter im jugendlichen Alter verkörpern, in einem Scheinwerferkegel. Jede für sich und doch gemeinsam. „Was hätten wir einander zu erzählen, was könnten wir einander anvertrauen? Wären wir Freundinnen?“ Wer weiß. Begegnen aber können sie einander hier – und wirkliche Nähe zu vertrauten Menschen ist eine Sehnsucht, die Olivia Wenzels Text wie die Inszenierung ebenfalls durchschwingt.

Info

1.000 Serpentinen Angst Anta Helena Recke (Regie), Maxim Gorki Theater, Berlin

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