Nach drei Corona-Spielzeiten endlich wieder Theater wie zuvor: ohne Abstand, ohne Masken, ohne Vorstellungsausfälle. Das Publikum kommt zurück, melden die Theater, nachdem der „Publikumsschwund“ noch das Schreckenswort des Jahres 2022 war. Das Berliner Ensemble meldete schon einen Rekord: 93,7 Prozent Auslastung in der Spielzeit 2022/23 – so viel wie seit 20 Jahren nicht. Auch die umfassendere, soeben erschienene Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins, die noch einen Blick auf die Spielzeit 2021/22 wirft, verzeichnet eine Besserung der Lage: knapp unter 70 Prozent der Vor-Corona-Besuche kamen wieder zustande.
Generell wird Theater wertgeschätzt, hat eine Ende Mai veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung ergeben: Für 82 Prozent der Be
ent der Befragten gehören Theater, Opern und Museen zur kulturellen Identität Deutschlands. 76 Prozent sind der Meinung, dass die kulturelle Infrastruktur auch in Zukunft aus öffentlichen Mitteln finanziert werden sollte. Allerdings – ein Paradox – bleibt die Nutzung weit dahinter zurück. Lediglich ein Fünftel der Befragten gab an, im vergangenen Jahr eine Theateraufführung besucht zu haben. Theater erreicht also nur einen kleinen Teil der prinzipiell Kulturinteressierten. Und vier von zehn jungen Menschen fühlen sich in Kulturveranstaltungen fehl am Platz oder vom Angebot gar nicht erst gemeint. Publikumsgewinnung ist denn auch ein Schlagwort in den Theaterleitungen und das Interesse an der Nichtbesucher-Forschung hat zugenommen. Sie soll Auskunft geben, wer warum nicht ins Theater kommt. Da gibt es also viel zu tun für die Theater – oder, anders herum betrachtet, eine riesige Chance, die eigene Publikumsbasis zu erweitern.Weil die öffentliche Förderung aber von Zuschauer- und Aufführungszahlen abhängt, tendieren die Stadt- und Staatstheater dazu, den Zustand vor Corona wieder anzustreben. Die Statistik des Bühnenvereins zeigt, dass hier offenbar kein Umdenken stattgefunden hat: Entschleunigung, wie sie während Corona an den Theatern gepredigt wurde, scheint jedenfalls nicht das Ziel. Die Zahl der Aufführungen in der Spielzeit 2021/22 lag wieder bei rund 87 Prozent im Vergleich zu 2018/19. Frönt man wieder der Überproduktion? Dabei ist die Erschöpfung vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter groß nach drei Jahren des ständigen Neudenkens und Umplanens, der Unsicherheit und der hektischen Produktion mit der Milliarde des Förderprogramms Neustart Kultur.Künstlerisch merkt man, dass wieder weniger Zeit in die Arbeiten gesteckt wird. Sechs Wochen Proben bis zur Premiere sind Standard am Theater, plus Vorbereitungszeit des künstlerischen Teams. Dann geht der Vorhang hoch. Dabei tut es einer Produktion oft gut, wenn sie in der Konzeptions- und Probenphase noch einmal ruhen darf. Jetzt kommen mitunter wieder nicht ganz zu Ende geprobte Inszenierungen zur Premiere, die entweder ihr Publikum finden – oder nach kaum zweistelligen Vorstellungen wieder abgespielt werden. Im Ensemble- und Repertoirebetrieb ist das eingepreist.Problematischer ist das in der freien Szene. Die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler hangeln sich von Projekt zu Projekt und schreiben immer schon den nächsten Förderantrag, während sie das aktuelle Stück proben. Für sie gab es durch die milliardenschweren Neustart-Kultur-Förderungen die Gelegenheit, dem Produktionsdruck zu entkommen. Zeit zu haben für die Vernetzung mit Kolleginnen, für das Aufarbeiten von Archiven und vor allem für Recherchen, beschreiben viele der prekär verdienenden Künstlerinnen und Künstler als eine Wohltat.An der AbbruchkanteObschon Neustart Kultur eine Gießkannen-Förderung war, bei der künstlerische Qualität nicht zwingend ausschlaggebend war, hat genau das oft einen qualitativen Schub bewirkt. Doch nun ist Sparen angesagt. Der Fonds Darstellende Künste, der die Interessen vor allem der Freischaffenden vertritt, warnt schon länger vor der „harten Abbruchkante“ nach dem Auslaufen der Corona-Förderungen. Diese Kante scheint nun erreicht, die Panik unter den freien Künstlern wächst: In Berlin sind etliche etablierte Tanzschaffende aus der Basis- und Konzeptförderung gefallen. Gestiegene Kosten und Mindesthonorare bei gleichbleibenden Fördersummen verringern die Anzahl an Förderungen, die die Jurys vergeben können.Kostensteigerungen treffen auch die festen Häuser, die zudem Tariferhöhungen stemmen müssen. Für kleinere Theater können die höheren Personalkosten schmerzhafte Einschnitte in den künstlerischen Etat bedeuten. So schlug beispielsweise der Intendant des Stadttheaters Görlitz-Zittau, Daniel Morgenroth, bereits im April Alarm, seinem Haus drohe die Insolvenz. Gefordert sind die Kommunen, das auszugleichen – doch auch sie stehen unter Kostendruck.Das Bundeskabinett plant, den Kulturetat für 2024 im Vergleich zum laufenden Jahr um 111 Millionen Euro auf 2,15 Milliarden Euro aufzustocken. Auch in Thüringen soll der Etat für Theater und Orchester ab 2025 steigen – eine demokratiefördernde Maßnahme nach der Wahl eines AfD-Landrats in Sonneberg. Neue Spielräume eröffnet das allerdings nicht, aufgefangen werden vor allem steigende Kosten. Wie alle gesellschaftlichen Systeme hat es auch das Theater mit multiplen, einander überlagernden Krisen zu tun. 2022/23 könnte die letzte Spielzeit gewesen sein, in der ein Zurück zum Zustand vor Corona als Option erschien.