Kann man die Zeit umstellen?

Erklärungsversuch Am heutigen Sonntag wird auf die Sommerzeit umgestellt. Für die eigentliche Zeit hat das keine Bedeutung: über sie hat der Mensch keine Kontrolle

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Dauerhafte Installation in Düsseldorf, angefertigt anlässlich der Bundesgartenschau 1987, „Zeitfeld“ von Klaus Rinke
Dauerhafte Installation in Düsseldorf, angefertigt anlässlich der Bundesgartenschau 1987, „Zeitfeld“ von Klaus Rinke

Foto:Maja Hitij/Getty Images

Am heutigen Sonntag ist es wieder soweit. Von 2 auf 3 Uhr wird die Uhr auf Sommerzeit umgestellt. Bevor die Zeitregelung 1996 in der Europäischen Union vereinheitlicht wurde, hatte die heutige BRD mehrere, begrenzte Phasen der Umstellung. Erstmalig eingeführt wurde sie während des Ersten Weltkrieges von 1916 bis 1918. In der Zwischenkriegszeit fand sie hiernach keine weitere Regelung, erst während des Zweiten Weltkriegs wurde sie im faschistischen Deutschland gesetzlich geregelt. Während der Teilung Deutschlands wurden die Diskussionen darüber primär politisch geführt, welche dann 1981 zur heute bekannten Sommerzeit führte. Dass die Auswirkungen auf die halbjährliche Verschiebung mehr oder minder negativ sind, ist dabei keine Neuigkeit: neben psychologischen Gründen, wie die Belastung der circadianen Rhythmik, sind auch gesellschaftliche ersichtlich, wie besonders der gesetzlichen Regelung von Nachtschichten über das Wochenende. Doch was bedeutet es eigentlich, die Uhr umzustellen? Ist die Zeit eine von Menschen kontrollierte Größe, die über sie verfügen können, unabhängig von objektiven Bedingungen? Der Versuch einer Antwort darauf eröffnet viele weitere Fragen und Themenfelder, die letztlich eine urontologische Debatte betrifft, welche sich der Bedeutung des Seins widmet. Dass die Zeit dabei weit mehr ist als die Bestimmung des Tages oder ein Hilfsmittel, um Treffen jeglicher Art zu koordinieren, ist ebenso keine neue Erkenntnis wie die Tatsache, dass Zeit sowohl relativ als auch objektiv ist.

Zeit wird primär als physikalische Größe verstanden, die sich mit unterschiedlichen, doch in Wechselbeziehung stehenden Pfeilen beschäftigt: der psychologischen, thermodynamischen, elektrodynamischen, quantentheoretischen und der kosmologischen. Sie alle eint eine Grundinstanz, die die Richtung der Zeit ausmacht, welche sich eines anarchischen Chaos verweigert. Spricht man von ihr, so werden damit drei Ebenen aufgefasst, die streng miteinander verknüpft sind: das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Die Dialektik der Zeit ist es, diesen Prozess nicht als rein mechanisches und starres Phänomen zu vollziehen, sondern in ihrer Vielschichtigkeit – ausgehend von der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein – die Interpretation der Ebenen von Beobachtungsstandpunkt abhängig zu machen. Wie schnell die Zeit vergeht, hängt von der Gravitation einerseits und der Position, der sie beobachtet, andererseits ab. Dieses Phänomen ist, wenngleich kaum beobachtbar, auch auf unserem Planeten ersichtlich: bedingt durch die Gravitation könne man, so Andreas Müller in seiner Ausführung, davon sprechen, dass „Bewohner*innen im Tal“ langsamer altern als „Bergbewohner*innen“. Trotz des unterschiedlichen Verlaufs der Zeit, der anders als auf der Erde sehr viel größer ausfällt, kann man schlechterdings nicht von einer „Vergangenheit“ oder „Zukunft“ sprechen, denn dass es geschieht, geschieht im exakt selben Moment, der abhängig von der Beobachtung entweder (sehr) langsam der (sehr) schnell vonstattengeht.

Die verstandene „Vergangenheit“ ist keine in der Zeit, sondern dem Verständnis einer von hier beobachtbaren Zeit. Vergangenes ist geschehen, und wird nicht wieder sein, derweil gegenwärtiges permanent und so lange bleibt, bis die Zeit endet. So ist das zukünftige rein theoretisch, das nie eintreten wird. Derweil das Gegenwärtige ein Produkt und Ergebnis zugleich des Vergangenen ist, kann man Ursache und Wirkung a posteriori beobachten; doch das Zukünftige bleibt die Vorstellung einer Gegenwart, die noch keine Vergangenheit besitzt. Schlechterdings ist das auch noch zu locker, vielmehr müsste man sagen: Die Zukunft ist das Verständnis einer Gegenwart, die immer ist. Das mag unlogisch erscheinen, doch das obliegt einer idealisierten Definition der Zeit: doch es ist unbestreitbar, dass niemand weiß, was kommen wird, ohne die Erfahrungen der Vergangenheit zu berücksichtigen, was eben die Zukunft als rein theoretisches Konzept entlarvt, denn jeder Gedanke, jedes Vorhaben, jede Planung und hiernach jede Verwirklichung, jedes Ziel findet ausschließlich in der Gegenwart statt: Etwas kann nicht bereits geschehen sein, ohne das es geschieht.

Hieran knüpft dann auch die Frage, ob Zeit umzustellen ist. Im – nicht-pejorativ zu verstehenden – primitiven Verständnis der Zeitumstellung findet schlechterdings kein physikalischer Eingriff in die Naturgesetze statt, sondern einzig das Mittel, welches die Zeit anhand der Bedingungen, die auf der Erde herrschen, misst, wird dahingehend manipuliert, dass eben eine Stunde „übersprungen“ wird. Bleibt man in diesem Kosmos, verliert man dennoch keine Stunde, wenngleich das im Volksmund immer postuliert und gejammert wird. Würde man all das als Regel akzeptieren, so käme bei der Umstellung auf Winterzeit die „verlorene“ Stunde zurück, was somit ein rein konzeptionalistisches Gleichgewicht simuliert, welches keinen Einfluss auf die Zeit hat – und das aus sehr gutem Grund. Denn bei diesem Gedankenspiel tut sich unweigerlich die Frage auf, ob denn eine Zeitreise möglich erscheint. Nehmen wir die vorgeschlagene Definition, wonach nur Gegenwart stetig ist, muss das verneint werden. Lassen wir uns dennoch darauf ein, und es bestünde eine physikalische Möglichkeit, in die Vergangenheit zu reisen, würden man dennoch nie erfahren, ob die Zeitreise nun erfolgreich war oder nicht. Woran das liegt, ist in den Gesetzen der Zeit selbst verankert.

Der zeitreisende Mensch bleibt trotz Aushebelung der Richtung der Zeit ein materielles Wesen und ist unmittelbar mit der Zeit verbunden. Hiernach muss die Reise in die Vergangenheit sich auch im Menschen selbst niederschlagen, der, je weiter er zurückgeht, auch entsprechend altert, hier: jünger wird. Durch diesen Prozess wird auch jede Erfahrung schwinden, die in der nun theoretischen Zukunft gesammelt wurde. Der Mensch wird also keine Kopie von sich selbst erstellen und sein jüngeres Ich erblicken, sondern er wird selbst das jüngere Ich und von da an keine Erinnerung mehr haben, je eine Zeitreise begangen zu haben. Erst dann wird die Frage, ob die Welt deterministisch ist oder nicht, relevant, doch spielt hier keine Rolle, denn die Aushebelung dieses Gesetzes würde noch viel tief greifender Eingriffe nach sich ziehen, die den Verlauf der Zeit maßgeblich macht: der zweite Hauptsatz der Thermodynamik.

Eben jener Hauptsatz besagt, dass ein Körper niederer Temperatur nie Wärme an einen Körper höherer Temperatur abgibt. Der YouTube-Kanal „100 Sekunden Physik“ illustrierte es mit dem Beispiel eines sich drehenden Karussells: damit es stoppt, gibt es Wärme ab und verlangsamt dadurch seine Geschwindigkeit. Hier ist die Ordnung der Zeit eindeutig. Würde die Zeit nun aber in eine andere Richtung gehen, müsste sich das Karussell aus dem nichts bis in die Unendlichkeit drehen. Diese physikalische Erkenntnis zementiert hiernach die Bedingung der Richtung der Zeit, die nicht wahllos wechseln kann. Da bisher nicht beobachtet werden konnte, dass der zweite Hauptsatz gebrochen wurde, muss auch eine Zeitreise in die Vergangenheit ausgeschlossen werden. Denn dies impliziert die Umkehrung der Richtung, welche erstmals keine weiteren Naturgesetze brechen würde. Die Thermodynamik verhindert dies aber stringent. Dahingehend ist eine Reise in die Vergangenheit, gleich, welchen Maßstab der Beobachtung man heranzieht, eine Unmöglichkeit. Dass eine Reise in die Zukunft ebenfalls ausgeschlossen ist, muss nicht mal in einem Naturgesetz verankert sein, sondern liegt in der Dialektik der Zeit, die bereits erwähnt wurde: etwas, was noch nicht geschah, kann nicht schon geschehen sein.

Doch was hat das alles mit der Zeitumstellung zu tun? Gar nichts und alles. Die Uhren umzustellen ist eine Konzeption des Menschen, derer er sich ermächtigen kann, ohne die Naturgesetze und Dialektik der Zeit zu missachten. Ob es 1 Uhr oder 3 Uhr nachts ist, hat keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Zeit. Doch erst die Zeit ermöglicht es, Uhren umzustellen, die Zeit messen. Dass alles Leben und Sein unmittelbar mit der Zeit zusammenhängt und mit ihr endet, hebt die Bedeutung ihres Wirkens über die bloße Uhrzeit. Sie ist permanente Begleiterin eines jeden Einzelnen und des großen Ganzen. Ohne sie kann kein Leben beginnen und enden. Ihre Besonderheit liegt in ihrer Relativität: Sie hört erst dann auf zu sein, wenn sie selbst nicht mehr ist – und auf diesem Wege hat sie die Zeit aller Atome bereits beendet. Die Existenz von Schwarzen Löchern erlaubt es den Menschen zu beobachten, was geschieht, wenn die Zeit nicht mehr ist: alles nach dem Ereignishorizont steht still, da die Zeit selbst negiert wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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