Fuck! Erzähl.

Interview 30 Jahre nach 1989 zeigt die Ostlinke Anna Stiede der Westlinken vieles neu: eine Revolution. Eine Identität. Und: offene Fenster
Ausgabe 44/2019

Anna Stiede und ich kennen uns seit zehn Jahren: Wir haben zusammen die Blockupy-Proteste gegen die Krisenpolitik der EU zwischen 2009 und 2015 organisiert. Politisch waren wir uns immer sehr nah – und fühlten uns doch einander fremd. Irgendwie. Jetzt arbeitet Anna bei einer Inszenierung der Massendemonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz mit. Ich frage mich, warum 1989 und die DDR für sie so eine große Rolle spielen. Noch immer, oder: erst jetzt. Ich frage sie.

der Freitag: Anna, wie alt warst du im Herbst 1989?
Anna Stiede: Zwei. Und du?

Fünf. Du arbeitest derzeit mit dem Theaterkollektiv „Panzerkreuzer Rotkäppchen“ an einer Reinszenierung der Massendemonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989. Wieso wiederholst du eine Demo, bei der du erst zwei warst?
Es geht uns nicht um eine Wiederholung, sondern eine Wiederbelebung. Die Regisseurin Susann Neuenfeldt spricht von einem Gefühlsraum: Wir bringen die politische Hoffnung von damals auf die Bühne. Aktualisiert. Welche Utopien kann die Demo von damals für heute öffnen? Für die Bündnis-90-Gründerin Marianne Birthler etwa spricht eine 14-Jährige Aktivistin der Fridays for Future.

Sei ehrlich, wann hast du zum erstem Mal von der Demo gehört?
Als Erwachsene. Ich habe mich im Rahmen meiner Doktorarbeit mit der europäischen Krisenpolitik befasst, und da hat mir ein Kollege von der Rosa-Luxemburg-Stiftung einen Text über den 4.11. in die Hand gedrückt.

Was hat die Wende denn mit der Wirtschaftskrise zu tun?
Für mich war es krass, zu sehen, wie in Griechenland eine Verohung einsetzte durch die Kürzungsdiktat der EU. Ein Individualisierungschub. Da hat sich Gesellschaftlichkeit in seine Einzelteile aufgelöst.

Und das hat dich an deine Erfahrungen nach der Wende erinnert?
Ja, aber ich habe erstmal nicht verstanden, warum mich das so bedrückt. Ich sprach darüber in einer Veranstaltung mit dem linken Philosophen Thomas Seibert...

...ich erinnere mich, es war bei den Vorbereitungen der Blockupy-Proteste gegen die Krisenpolitik in Frankfurt am Main 2012.
Genau. Thomas Seibert wies mich darauf hin, dass Individualität in den linken Kämpfen nach 1968 auch emanzipatorisches Potenzial hatte. Ich hatte das Gefühl, irgendwas stimmt hier nicht. Erst später ist mir klar geworden: Hey, aber nicht alle in diesem Raum haben in diesem Land gelebt, auf das er sich bezieht. Einige hier haben in einem anderen System gelebt. Und haben vielleicht einen anderen Bezug zu Individualisierung. Das wird nie thematisiert. Nach mehreren solcher Erfahrungen gründete ich mit Ostfreunden einen Ostsalon.

Du organisierst auch viele Veranstaltungen zur „Ostidentität“...
Ich habe mir diese Identität nicht ausgesucht. Sie entsteht einfach, durch Abwertungen.

Abwertung?
Das erste Mal habe ich es gespürt, als ich mit zwölf nach München fuhr. Da haben Leute komisch reagiert auf meinen Ostdialekt.

Welchen Ostdialekt?
Ich habe ihn mir abtrainiert, um nicht als dumm wahrgenommen zu werden. Wenn ich „Spinat“ wie „Spinnat“ ausgesprochen habe, haben alle gelacht: kommst du aus Sachsen? Meine Schule in Apolda hatte eine Partnerschule in Hessen. Die haben mich da echt gefragt, ob Thüringen an der Ostsee liegt! Ich wusste doch auch, wo Hessen liegt! Das gleiche gilt für die linke Geschichte. Ihr kennt nur die westdeutsche linke Geschichte.

Und darüber sprecht ihr in dem Ostsalon?
Wir reden darüber, warum, verdammt nochmal, uns die DDR nicht loslässt, obwohl wir bei der Wende Kleinkinder waren, oder Jugendliche. Als 2019 näher rückte, wollten wir etwas zu 30 Jahre Herbst `89 machen, das nicht im schwarz-rot-goldenen nationalen Taumel untergeht, sondern die linke Geschichte der Revolution beleuchtet.

Da ging es also noch gar nicht um die AfD?
Nein, die „Vollende die Wende!“-Plakate gab es damals noch nicht, das Wende-Gedenken war jahrelang schwarz-rot-gold, nicht blau. Obwohl der Aufbruch doch links war! Wir wollten selbstbewusster werden und diese Geschichten des Herbst 89 nicht der AfD überlassen. Wir gründeten also einen Vorbereitungskreis, der nur für Ostler*innen offen war...

Warum das denn! Mich hätte das auch interessiert!
Weil ich keinen Bock hatte, wieder erstmal Westler*innen erklären zu müssen, was mein Verhältnis zur DDR ist. Wir wollten diskutieren: Was kann man als undogmatisch-antistalinistische Linke über den kurzen Herbst der Utopie erzählen?

Und man hätte den Westlinken nicht erklären können, warum das eine wichtige Sache ist?
Die älteren Leute bei uns haben sich 30 Jahre lang daran versucht. Ich erlebe das gerade auch wieder. Leute wollen mir ernsthaft erzählen, dass es im Osten Nazis gibt! Mir! Ich habe als Jugendliche jeden Tag mit Angst das Haus verlassen. Ich wurde von Nazis gejagt. Und dann erklären mir echt Westler, ich würde den Osten idealisieren.

Fuck.
Genau. Wir brachten also Leute aus der Vereinigten Linken zusammen mit jungen linken Aktivist*innen aus dem Osten, und entschieden: Wir wollen uns nicht zwischen Verteidigung oder Ablehnung der DDR entscheiden. Dazwischen gab es ja noch etwas. Subversive Kunstprojekte, Hausbesetzungen. Nestbeschmutzer, die die DDR als Staat scheiße fanden, aber den sozialistischen Ideen etwas abgewinnen konnten. Für die brach nach 1989 viel auf, aber auch zusammen.

Nicht nur für die. Auch für viele Westlinke.
Thomas Klein, der für die Vereinigte Linke kurz im Bundestag saß, hat auf einem unserer Treffen gesagt: Für die Westler war 1989 wirklich das Ende. Traurigkeit. Für uns Ostler war 1989 aber ein Aufbruch!

Verstehe.
Was ich nicht verstehe: Warum haben sich West- und Ostlinke nicht viel stärker verständigt?

Ich kann nachvollziehen, dass die Westlinke irgendwie sauer war.
Warum das denn?

Ich versuche, es dir zu erklären.... Mir selbst wurde erst mit 16 klar, dass in der DDR wirklich Sozialismus versucht wurde.
Was hast du denn vorher gedacht, was die DDR war?

Hmm. Ich dachte, das war wie Deutschland, nur in grau, ohne Spaß und ohne Farben.
Hahaha...

Ja. Und dann habe ich gelernt, was Sozialismus ist, und dann erst gecheckt, dass der versucht wurde nach 1945. Bei euch. Und dann wurde ich wütend: Was alles passieren muss, um Sozialismus aufzubauen! Und dann verkackt ihr das einfach?! Das war‘s also, jahrzehntelang glaubt keiner mehr daran, dass etwas anderes als Kapitalismus möglich ist. Ich merke, ich bin jetzt noch sauer.
Verstehe. Aber das kann doch nicht der Grund sein, sich nicht mit all diese Leuten zusammenzusetzen, die die Revolution gestartet haben im Herbst 1989.

Von welchem Zeitpunkt reden wir jetzt? Denn dass die Westlinke nach der Kohl-Wahl Ende 1990 die Nase voll hatte, das ist doch klar.
Ist mir auch vor kurzem erst klar geworden: Wenn diese Mauer nicht aufgegangen wäre, wäre Kohl in der alten Bundesrepublik vielleicht gar nicht wiedergewählt worden.

Stell dir vor, man war diesen CDU-Kanzler schon fast los, und dann kommen die Leute, die Sozialismus hatten, und wählen den so stark ins Amt, dass der nochmal acht Jahre regiert.
Der Frust ist schon nachvollziehbar. Aber man muss sehen: Die DDR-Opposition hatte kaum Zeit, sich zu organisieren. Jahrzehntelang gab es keine verfasste Öffentlichkeit, es gab Repression und kaum außerparlamentarische Organisierung. Nur ein paar klandestine Flugblattschreiber. Erst 1989 haben sich mehr Leute organisiert. Ronald Freytag, der als Student der Humboldt-Universität auf der Demo am 4. November gesprochen hat, sieht das Datum als eigentlichen Höhepunkt der DDR. Nur fünf Tage später fiel die Mauer. Es ging zu schnell.

Ging es wirklich nur zu schnell? Oder wollten die Leute einfach keinen Sozialismus mehr?
500.000 Leute auf dem Alex! Ob Christa Wolf oder Heiner Müller: Die meisten Reden dort drehten sich um die Demokratisierung des Staates. Des Sozialismus.

Du meinst, die 500.000 wollten alle den dritten Weg? Hätte man auf dem Platz die Frage gestellt: oder wollen wir doch mit dem Westen zusammengehen – was wäre passiert?
Jedenfalls hab ich bei allen Recherchen bisher keine Transparente entdeckt, die die Wiedervereinigung forderten. Es gab Alarmsignale, wie das rote Transparent eines Antifablocks, welches die Hetzjagd gegen Vertragsarbeiter in Weimar skandalisierte, zahlreiche Transparente und Schilder, die sich gegen die SED Macht richteten und Basisdemokratie forderten. Und wirklich viele Schilder, die so schlau und auch lustig sind – soviel Witz und Intelligenz trauen viele den DDRler*innen wahrscheinlich gar nicht zu.

Aber als die Mauer aufging, wo blieben da die Massendemonstrationen gegen die Vereinigung mit dem Westen? Für einen demokratischen Sozialismus? Gab es nicht.
Gab es nicht... gab es nicht. Die noch sehr junge und naive Oppositionsbewegung konnte gegen Kohl und das Westgeld in seinem Rücken nicht ankommen. Mir hat der Pfarrer Konrad Elmer-Herzig gesagt: Wir hätten noch ein Jahr gebraucht, um die Idee von einem anderen Sozialismus auf die Beine zu stellen.

Das Problem war doch nicht nur die Maueröffnung. Vorher sind die Leute scharenweise abgehauen in den Westen. Der Zeitdruck war ohnehin schon da.
Die Konsumwelt war zu verlockend. Meine Mutter hat sich auch über den Mauerfall gefreut. Was haben wir uns gestritten in meiner Jugend!

Worüber?
Ich war Antifaschistin. Als ich das Wort nur in den Mund nahm, stand in ihrem Kopf die Mauer schon wieder.

Wie bist du Antifaschistin geworden?
Mit zwölf war ich mit meinen Lehrern im ehemaligen Konzentrationslager in Buchenwald. Da habe ich beschlossen, dass das nie wieder passieren darf. Und dann habe ich Nirvana gehört und bunte Klamotten getragen...

...wie ich!
...und dann gab es bei uns diese Gorilla-Banden, die Manja Präkels in ihrem Roman beschreibt, „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“. Die durch die Städte und Dörfer ziehenden Faschos. Die mochten es nicht, wenn Kids so bunt durch die Gegend liefen, also habe ich mich mit den anderen Bunten zusammengetan.

Zur Person

Anna Stiede, 1987 in Jena geboren, ist politische Bildnerin und Kommunikationstrainerin in Berlin. Aktuell bringt sie Dramaturgen und Darstellerinnen des Theaterkollektivs „Panzerkreuzer Rotkäppchen“ (PKRK) mit Protagonisten der DDR-Revolution 1989 zusammen

Mit den Punks und Gruftis und Hippies und allen, die in der alternativen Disko herumhingen, das war bei uns in Wilhelmshaven die Antifa-Subkultur.
Ja, genau, bei uns auch, in den Jugendclubs von Apolda. Mucke war wichtig, wir hatten unsere Zeckenbands. Und dann fing es an, dass Freunde von mir verprügelt wurden, dass man gejagt wurde. Dass vor dem Jugendclub plötzlich 50 Nazis stehen. Das war nicht nur in den 90ern so, das gab es in den Nullerjahren auch noch.

Durch die Subkultur bist du also antifaschistisch geworden? Und das konnte deine Mutter nicht verstehen? Weil es das gleiche war wie linksradikal?
Nein, weil sie nicht verstand, wie man sich als antifaschistisch bezeichnen konnte. An der Schule war es genauso. Ich hatte als Schülersprecherin Aufklärungsposter von der Bundeszentrale für politische Bildung, darauf waren Nazi-Symbole abgebildet, die verboten waren. Als ich die aufgehängt habe, hat mich der Schulleiter ins Büro gerufen und mich aufgefordert, die wieder abzunehmen.

Hä? Warum das?
Alles, was antifaschistisch war, hat in den Köpfen sofort die Mauer zurückgerufen.

Weil es links war?
Nein! Weil es antifaschistisch war! Antifaschismus stand für die DDR.

Ach krass. Jetzt verstehe ich das erst. Im Westen war Antifa antistaatlich, das Gegenteil von Staat. Und im Osten stand Antifa für den alten Staat!
Klar! Es war sehr schwer, antifaschistische Politik an der Schule zu betreiben. Meine Mutter konnte das nicht verstehen. Aber jetzt kommt sie zur unserer Inszenierung der Massendemonstration mit dem Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen am 4.11. auf dem Alexanderplatz. Und meinen Artikel, den ich über Emo-Trouble und das Aufbegehren der Kinder in Ostdeutschland geschrieben habe – das war der erste Artikel, den meine Oma und Mutti wirklich verstanden haben.

Ich hätte diesen Artikel vor zehn Jahren, als wir uns kennen gelernt haben, nicht verstanden.
Was hättest du daran nicht verstanden?

Was das soll mit dieser Ostidentität. Die Mauer ist seit ewig weg, was soll also dieser Ost-West-Scheiß, immer noch? Dann wäre ich wieder wütend geworden darüber, dass ihr den Sozialismus dermaßen versemmelt habt, und jetzt diese versemmelte Identität wieder aufbauen wollt. Ich wollte nicht, dass meine linken Utopien in Verbindung gebracht werden mit dem autoritären, miefigen grauen, mit dem ganzen diktatorischen Scheiß, der da in der DDR veranstaltet wurde. Ich fand, alles, was man zur DDR noch sagen muss, ist: Das ist nicht das, was wir wollen. Fertig.
Fuck.

Genau. Die Erzählungen, wie es zum Mauerfall eigentlich gekommen ist, kannte ich gar nicht. Mir wurde erzählt: In der DDR gab es eine Diktatur, und die wollten die Leute nicht mehr, die wollten lieber den Westen, und dann fiel die Mauer und alle waren glücklich.
Wann hast du davon gehört, dass es im Herbst 1989 andere Stimmen gab?

An der Uni. In Gesprächen mit Ost-Kommilitonen und einem Seminar über Wendeliteratur, da haben wir Christa Wolf gelesen, auch ihre Rede auf dem Alexanderplatz gehört. Ich war ziemlich geflashed: da waren echt so viele Leute, die einen demokratischen Sozialismus wollen?!
Und hast du dich damit weiter beschäftigt?

Eigentlich nicht. Man wird an der Uni ja nicht gerade dazu gezwungen, sich damit zu beschäftigen.
Nein, wird man nicht. Und dann?

Einen emotionalen Zugang zu dieser Revolution hatte ich lange nicht. Auch zum Osten nicht. Ich dachte mir, erst machen sie den Sozialismus kaputt und dann ist da alles nur noch braun. Die Kohle. Die Nazis. Ich wollte das einfach weg haben. Deckel drauf.
Oder Mauer wieder hoch, wie einige Westfreunde gern scherzenshalber an dieser Stelle sagen. Ich finde das immer so mäßig witzig.

Ja. Und dann kam die AfD. Erstmal bewies mir das Erstarken der AfD natürlich, dass ich Recht hatte: alles blau da im Osten.
Was hat dein Denken verändert?

So richtig habe ich erst umgedacht, als ich bewusst in den Osten gefahren bin, dieses Jahr. Nach Görlitz.
Habe ich gelesen, du bist da für Reportagen über die Bürgermeisterwahlen hingefahren.

45 Prozent der Stadt haben für den AfD-Kandidaten Sebastian Wippel gestimmt. Nur ein Bündnis von Grünen, SPD, Linken, Bürgerlisten und CDU konnte den CDU-Kandidaten ins Amt hieven.
Und was hast du da gecheckt?

Dass dort eine Gesellschaft ist mit allen Widerspüchlichkeiten. Vielleicht ähnlich wie Rechte sich Migranten vorstellen als einheitliche Masse, so habe ich mir früher die Gesellschaft im Osten vorgestellt. Obwohl ich ja nicht völlig bescheuert bin und antirassistische Forschung kenne. Aber ich musste erst bewusst hinfahren und Leute kennenlernen, um verstehen, dass es da ganz unterschiedliche Menschen gibt. Dass man viele dort jeden verdammten Tag einen Weg finden müssen, mit Rechten umzugehen.
Hast du auch mit AfD-Leuten gesprochen?

Ja, auf der Wahlkampf-Abschlusskundgebung bei der Sachsenwahl. Ich habe sie gefragt, warum sie nicht mehr CDU wählen, und plötzlich erzählen die mir: Weil man Merkel nicht wählen kann, die war ja FDJ-Sekretärin. Das hatte ich noch nie gehört als Kritik an Merkel. Die erzählten mir auch ihre Fluchtgeschichten aus der DDR. Ich habe gelernt, dass ich diese Leute nicht in ihrer rassistischen politischen Einstellung akzeptieren kann, das geht nicht. Aber dass ich sie sehr wohl in ihrer Lebensgeschichte ernst nehmen muss. Dann erst habe ich linken Ostfreunden auch anders zugehört.
Es ist total unangenehm, dass Ostlinke etwas teilen mit diesen AfD-Wählern, aber es wird etwas geteilt. Vielleicht Eine Form von Frustration, Unsicherheit und Angst. Vielleicht aber auch Traurigkeit, Von Kränkung, Wut. Das sage ich jetzt nicht, um diese rassistische Politik der AfD zu rechtfertigen. Es gibt keine Rechtfertigung für Faschismus. Sondern weil ich glaube, dass es ist wichtig ist zu verstehen, wie diese Zivilgesellschaft im Osten verfasst ist und welche Gefühle die AfD instrumentalisiert. Und es ist wichtig sichtbar zu machen, dass es einen solidarischen Ausweg aus eben jenem Emo-Trouble geben kann. Wer soll den zeigen wenn nicht wir? Ich glaube daher, dass eine Art linke Trauerarbeit von Nöten ist. Vielleicht bin ich daher auch bei Panzerkreuzer Rotkäppchen gelandet – Theater traut sich hier etwas, was sich linke Gruppen, Partein, Institutionen nicht trauen, weil sie zu deutsch sind und alles nur mit dem Kopf klären wollen.

Welchen Unterschied siehst du in der der Ost- zur West-Zivilgesellschaft?
In der DDR gab es keine verfasste Öffentlichkeit und keine Praxis außerparlamentarischer Politik. Es gab keine Kundgebung auf dem Marktplatz, auf der darüber gesprochen wird, dass es vielleicht nicht so cool ist, wie die Vertragsarbeiter hier behandelt werden. Oder auf der die Frage diskutiert wird, warum hier eigentlich so viele Leute abhauen. Die scheiß Neonazis im Osten haben nach der Wende ihren Modus gefunden, mit ihrer Kränkung umzugehen. Nämlich: durch Gewalt. Dafür braucht es keine Zivilgesellschaft. Und all die anderen frustrierten und gekränkten Gestalten haben sich zurückgezogen und keine politische Form gefunden, das zu bearbeiten. Da frage ich mich schon: wo blieb denn da die Westlinke?

Was hätte sie denn tun können?
Zuhören und Organizing! Den Leuten sagen: In der BRD könnt ihr jetzt einfach ins Rathaus gehen und eine Kundgebung anmelden.

Es gab West-Antifas, die Ost-Antifas im Umgang mit Neonazis geschult haben.
Ja, es hat viel Belehrung stattgefunden. Auch Linksradikale, die nach Friedrichshain in die Mainzer Straße gegangen sind und erklärt haben, wie man Häuser besetzt.

Ach, das ist für dich jetzt Belehrung...
Weil wenig gefragt wurde: wie seid ihr denn früher eigentlich mit Nazis umgegangen, in der DDR? Die sind ja nicht einfach vom Himmel gefallen, die gab es vorher ja auch schon. Es wurde nie zurückgefragt. Oder wo waren die interessierten Fragen nach dem Leben in einem „möchtegern-sozialistischen“ Land? Daran sollten Linke doch ein Interesse haben, oder nicht?

Jetzt aber wird gefragt.
Und trotzdem wird mir, wenn ich über all das rede, noch vorgeworfen, dass ich Ost-Identitätspolitik betreibe. Von Leuten, die vom Osten keine Ahnung haben. Die Demo am 4.11.? Das habt ihr dann nie gehört!

Ich mag dieses „ihr“ nicht. Das machen Ostfreunde jetzt häufiger, „wir“ und „ihr“. Verletzt mich irgendwie. Und gleichzeitig erinnert mich meine Reaktion an feministische Männer, denen man sagt: „Ihr könnt ja doch nie verstehen, wie wir uns als Frauen fühlen!“ Viele Männer werden dann sauer. Ich werde auch sauer, wenn ihr diese Trennung aufmacht. Ihr Ostdeutsche. Bei euch passiert gerade etwas: Aufbruch Ost. Das finde ich spannend. Und dann höre ich von euren Treffen mit der Vereinigten Linken und bin traurig, dass niemand mir Bescheid gesagt hat, weil mich das doch auch interessiert hätte.
Es ist gut, dass du das ansprichst. Ich erlebe das auch bei anderen Westfreunden gerade, das Gefühl, sich ausgeschlossen zu fühlen.

Vielleicht ist das aber auch eine Trennung, die du schon länger erfahren hast, von uns... und wir haben es nicht gemerkt.
Stimmt.

Denn als Thomas Seibert in der Griechenlandkrise sagte, dass Individualisierung zu linker Emanzipationsgeschichte gehört, habe ich nicht gecheckt, dass das nur die westlinke Vergangenheit betrifft.
Siehste!

Aber die neue Ostidentität wird auch von Ostdeutschen kritisch gesehen. Annette Simon etwa, die Tochter von Christa Wolf, kritisiert die Homogenisierung. Sie schrieb in der Zeit, es gab nicht die eine DDR-Gesellschaft, es gab Spitzel und Bespitzelte.
Es geht mir auch nicht darum, ein homogenes „Wir“ und „Ihr“ aufzubauen.

Worum geht es dir dann?
Eine gute antifaschistischen Politik kann nicht auf einer Gesellschaftsanalyse basieren, die die Hälfte der Geschichte ausspart. Wir brauchen eine Gesellschaftsanalyse, die die DDR-Vergangenheit einschließt. Dazu gehören die Erfahrungen der Opposition auf dem Alexanderplatz am 4.11.

In eurem Stück zum 4. November kommt ein Song des Musikers Hans Narva vor: „Open a Window“, es steht für die Rede von Stephan Heym damals: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen“. Das hat mich sehr berührt. Der melancholische Song geht in einen harten Beat über, die Demonstrantinnen werden zu Techno-Zombies...
Ja. Ich musste heulen, als ich das bei den Proben sah. Erst das offene Fenster. Dann die 90er.

Totaler Utopieverlust.
Man muss verstehen, was da passiert ist. Die Demos in Dresden. In Leipzig. Die Demo auf dem Alex. Und dann die Kämpfe nach der Wende: Gegen die Betriebsschließungen. Die Enteignung durch die Treuhand. Die Massenarbeitslosigkeit. Unsere ganze Generation im Osten hat Eltern, die gescheitert sind. Väter, die sich tot getrunken haben. Erst wenn man diese Geschichte kennt, sieht man die Gefahr hier, und versteht die Gefahr in Griechenland. Und den Zusammenhang. Neoliberale Schocktherapie.

Die Niederlage in Griechenland 2015 hat mich mitgenommen, aber hatte für mich nichts mit 1989 zu tun.
Mir war damals schon klar, dass die BRD nur so dominant durch die Wirtschaftskrise gegangen ist, weil es die ehemalige DDR, marxistisch gesprochen, als Reservearmee einsetzen konnte. Weil die Agenda 2010 insbesondere im Osten einen gigantischen Niedrohlohnsektor eröffnet hat.

Es gibt noch eine Gemeinsamkeit von 1989 und 2015 in Griechenland: Den Moment des offenen Fensters. Als die Mehrheit der Griechinnen beim Referendum gegen die mit der Kürzungspolitik verbundenen Kredite stimmten, schien ein linker Aufbruch in Europa zum Greifen nahe. Und dann schloss sich das Fenster: Die Syriza-Regierung unterschrieb die Verträge einfach trotzdem.
Es gibt eine Sehnsucht nach einer Gesellschaft, die solidarisch ist. Diese Sehnsucht brach in Griechenland 2015 auf, und sie brach in der DDR auf, im Herbst 1989.

Nach einem utopischen Ort?
Nach einem Ort, an dem solidarisch gelebt wird.

Diesen Sehnsuchtsort gibt es jetzt nicht mehr. Auch im Osten nicht, wo man vielleicht dachte, die Freiheit liegt im Westen. Dieses „drüben ist es besser“ gibt es jetzt nicht mehr – für beide Seiten. Deshalb haben mich die 90er-Zombies aus eurem Stück so berührt. Die Utopie ist weg. Es ist nur noch kalter Kapitalismus. Das ist vielleicht unsere geteilte Erfahrung der 90er und Nuller Jahre.
Aber es gab diesen utopischen Moment, kurz. Am 4.11. Das bewegt mich so. Auf einmal haben sich die Leute in der Bahn wieder angeguckt, auf einmal haben sie miteinander gesprochen. In der spießbürgerlichen DDR. Sie haben angefangen, die Öffentlichkeit zu erobern. Haben das erste Mal Schilder gemalt, ihre Meinung im öffentlichen Raum hinterlassen. Das war wirklich etwas Revolutionäres.

Ronald Freytag hat dir im Interview gesagt: „Eine reformierte DDR wollte die Mehrheit nicht mehr.“ Er sagt über den 4.11.: „Die ganze Veranstaltung ist eine große Lüge gewesen“, du fragst nach, „eine Lüge?“, dann sagt er: „naja, sagen wir: eine Selbsttäuschung.“
Gelogen würde ja heißen: Man wusste, dass man nur eine sehr kleine Minderheit ist.

Wusste man das nicht?
Glaube ich nicht. Man konnte nicht wissen, dass ein Jahr später 40 Prozent Kohl wählen würden. Das Fenster war offen. Uns fällt es jetzt nur schwer, auf dieses geschlossene Fenster zu blicken. Die Treuhand. 200 Tote durch rechte Gewalt seit der Wende. Das Erstarken der Rechten.

Es tut weh.
Trotzdem war das Fenster offen. Und das kann wieder passieren.

Info

4-11-89 Theater der Revolution Berlin, Alexanderplatz, 4.11.2019, 17.30 Uhr

Info

Dieser Beitrag ist Teil unserer Wende-Serie 1989 – Jetzt!

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

Elsa Koester

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