Im Adventskalender steckt die Magie des Weihnachtsfests. So einem aus dem Supermarkt. Da ist dieses Bild von dem knallroten, pausbäckig lachenden Weihnachtsmann, der Geschenke aus seinem Jutesack holt, natürlich schneit es (keine drohende Klimakatastrophe), im Schnee spielen die Kinder, strahlend vor den vom warmen Kerzenschein erleuchteten Fenstern eines wunderschönen Hauses, in dem sie gleich um den Tannenbaum herumsitzen und sich mit köstlichen Lebkuchen vollstopfen werden, hach!
Aber halt, nein, um dieses Bild geht es ja gar nicht. Es geht darum, was in dem Bild drin ist, man kann in diese Weihnachtsharmonie hineingreifen, man bohrt seine Finger in das kerzenerleuchtete Fenster und findet: Schokolade! Im Bild drin ist Schokolade! Das ist Magie.
Nun ist Weihnachten nicht nur magisch, sondern auch ein Arschloch. Wenn man nämlich in echt in das kerzenerleuchtete Fenster hineingreift, dann findet man – uääh – so eine Art Familien-Urschlamm, gubbelige, schleimige Abgründe frühester Kindheit. Weihnachten sperrt Menschen in einem Bio-Familien-Kerker zusammen, schließt die Tür ab, schmeißt den Schlüssel weg und schaut, wer nach drei Tagen Vanille-Schoko-Verletzungsexplosion noch atmen kann.
Weihnachten zerrt Millionen von Menschen aus ihrem selbstgewählten Leben heraus und wirft sie zurück in ihre meist rein nach biologischen Zufällen zusammengesetzte Familie.
Diese Zusammenkunft ist heutzutage in der Tat systemrelevant. Denn auf wundersame Weise sind die eigentlichen Herstellungsorte sozialer Homogenität durch Bildungsexpansion und innerfamiliäre Aufstiegsgeschichten in der Mittelschicht zu (letzten) Orten milieuübergreifender Begegnung geworden. Wann sonst wird man gezwungen, mit dem AfD wählenden, sexistische Witze heraussabbernden Onkel über die Gesellschaft, die Politik und den ganzen Rest zu diskutieren? Wann sonst wird man gezwungen, die Familie mit den flink auf dem pubertierenden Arsch landenden Händen des Opas zu konfrontieren und „Er ist halt alt“-Diskussionen aufzubrechen?
Diese Gesellschaft bietet elf Monate im Jahr alle Möglichkeiten, vor Konflikten wegzurennen. In den zunehmend nach sogenannten sozialen Blasen sortierten Großstadt-Kiezen muss sich niemand mit AfD wählenden Onkeln auseinandersetzen, mit vereinsamten Großeltern und auch mit der eigenen Familiengeschichte. Jede Auseinandersetzung, die in irgendeiner Form anstrengend ist, muss nicht mehr geführt werden: Wir sind mobil! Ziehen wir einfach von unseren Familien weg; schließen wir AfDler einfach aus; oder, von rechts gedacht: Schieben wir alles und jeden, was oder der uns gerade nicht so richtig in den Kram passt, einfach nach Syrien ab!
Weihnachten zwingt Millionen im postchristlichen Kulturraum, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die einander überwiegend nicht selbstbestimmt suchen und finden konnten: mit der Familie! Weihnachten ist eine gigantische soziale Grausamkeit. Eine gesamtgesellschaftliche Zwangstherapie.
Früher fand die auf Dorffesten statt, oder in Kirchen. Fällt Weihnachten in diesem Jahr komplett weg, bricht zumindest der klägliche Rest eines alten Sozialsystems zusammen. Keine Schokolade mehr, die Familien auf der Suche nach Harmonie in harte soziale Konflikte zwingt. Und, jetzt mal ehrlich: Was soll unsere Gesellschaft denn bitte sonst retten, wenn nicht magische Schokolade?
Info
Lesen Sie hier das Gegenargument von Katharina Schmitz zu diesem Text
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.