Lasst sie

Lohnfortzahlung Es gibt viele Gründe, sich nicht impfen zu lassen – Ignoranz ist nur einer davon. Bestraft werden sollte man dafür nicht
Ausgabe 38/2021

Meine Oma hatte so ihre Sprüche, um sich nicht zu dolle aufzuregen. „Lass se doch!“ war so einer: „Ach, lass se doch.“ Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek von der CSU denkt nicht wie meine Oma. Er sagt: „Es kann nicht sein, dass die Gemeinschaft dafür zahlen muss, wenn das Risiko einer Infektion hätte vermieden werden können.“ Und beendet damit in Bayern die Lohnfortzahlung für Leute, die in der Pandemie in Quarantäne müssen – wenn sie nicht geimpft sind. Oha!

Wo soziale Leistungen an die individuelle Schuldfrage gekoppelt werden, müssen alle Alarmglocken läuten. Denn in dieser Gesellschaft, in der das Solidarprinzip auch nach Jahren des Neoliberalismus nicht gänzlich abgeschafft wurde, zahlt „die Gemeinschaft“ ja so einiges: das Krankengeld von Arbeitsunfähigen etwa (Krankenkassen) oder die Absicherung für Erwerbslose (Sozialkassen). Warum Menschen die Zahlungen in Anspruch nehmen müssen, erfragte man lange nicht: Wie auch immer sie lebten, es war ihr Recht. Nach 1998 war die Bundesregierung dann der Meinung, dass sich „die Gemeinschaft“ das nicht mehr leisten kann, zumindest beim Arbeitslosengeld. Seither wird jeder Antragsteller für Hartz IV durchleuchtet: Beansprucht die Person die Mittel der Gemeinschaft selbstverschuldet? Bewirbt sie sich auch wirklich auf alle infrage kommenden Jobs? Kommt sie zu allen Terminen? Wenn nicht, wird sie sanktioniert. Aus „Lass se doch“ wurde: Fordern und Fördern.

Im Krankheitsfall gilt dieses Prinzip in Deutschland zum Glück nicht. In der Pandemie nahmen die Krankschreibungen wegen psychischer Probleme zu. Wie viel davon hätte vermieden werden können? Sind die Leute genug spazieren gegangen? Haben sie genug Menschen über Zoom kontaktiert? Oder die Kranken, die wegen Lungenkrebs Krankengeld beziehen: Ja, haben sie denn geraucht? Das geht uns nichts an. „Die Gemeinschaft“ hat sich dafür entschieden, ihre Mitglieder im Krankheitsfall finanziell zu unterstützen. Wie gesund oder ungesund die Menschen leben – davon machen wir diese Unterstützung nicht abhängig.

Denn, wie ein anderer Spruch meiner Oma lautet: „Da steckt man nicht drin.“ Wir wissen nicht, warum eine Person lebt, wie sie lebt. Vielleicht haben Ungeimpfte ihre Gründe. Vielleicht kommen sie psychisch nicht zurecht. Vielleicht trauen sie dem Gesundheitssystem nicht. Vielleicht ist eine ihrer Liebsten an einer Thrombose gestorben. Vielleicht waren die Nebenwirkungen nach der ersten Impfung so heftig, dass die zweite ausgelassen wird. Vielleicht ist die ungeimpfte Person wirklich nur ein verbohrter Hornochse. Vielleicht. Da steckt man nicht drin. Lass se doch.

Nun leben wir in einer Pandemie, und „die Gemeinschaft“ muss, wenn sich jemand verhornochst benimmt, nicht nur für die finanziellen Kosten aufkommen, sondern ist auch pandemisch betroffen. Können wir „se lassen“, wie viel pandemietreibendes Verhalten können wir uns also leisten? Im Moment scheint es so, als kämen wir klar mit so vielen Ungeimpften. Sollte sich die Lage ändern, muss sich „die Gemeinschaft“ etwas einfallen lassen.

Mit Druck aber kommt man bei fehlendem Vertrauen selten weiter. Zumal ein Lohnwegfall in der Quarantäne die Lohngedumpten wesentlich stärker trifft als die Gutverdienenden – die, das kommt noch hinzu, häufig ins Homeoffice ausweichen und ihren Lohn so retten können. Das Ende der staatlichen Lohnfortzahlung im Quarantänefall ist also eine finanzielle Sanktionierung von (womöglich ängstlichen) Ungeimpften ohne Homeoffice. Muss das sein? Es ist schwer, in einer Pandemie die Geduld für Ängstliche, Ausgeschlossene, Langsame und Hornochsen zu bewahren. Aber, so meine Oma: „Da muss man durch.“

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

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