Therapeutin und Tragödienstatue

Bühne Eine Schauspielerin, eine Minute, viele Tränen: Da ist er, der lang vermisste Theatermoment
Ausgabe 22/2021

Endlich wieder Theater. Beinahe wäre es schon einmal so weit gewesen, aber dann wurde Money makes me cry im März kurzfristig abgesagt, das Theaterhaus der Münchner Kammerspiele wieder geschlossen. Jetzt aber doch, jetzt nicht nur vielleicht, wenn-es-die-Maßnahmen-erlauben. Gelingt es, nach Monaten der Abstinenz einen gewöhnlichen Theaterabend zu verbringen? Wie ging das noch mal, sind die Kunstreflexe noch geübt? Ist das Telefon off, nachdem es auf dem Parcours der digitalen Test- und Buchungsstrecken vom Innenstadtviertel bis zur Garderobe unverzichtbar war? Lacht man hoffentlich nicht an der falschen Stelle laut, klatscht hoffentlich an der richtigen? Nicht nur die Lücke einer präsenten Live-Kultur, die in der Pandemie aufgerissen wurde, auch Money makes me cry (Konzeption: Jan Bosse) macht das neue Eingewöhnen der Zuschauerin nicht leicht. Ist es überhaupt Theater? Ganz sicher ist das nicht. Es soll ein Solo gegeben werden. Man wird allein in den Saal gelassen, Vier-Augen-Theater, eine Zuschauerin, eine Schauspielerin. Sie wird eine Minute weinen. Die Aufführung ist mehr Flash als Stück. Für Menschen, die keine Zeit verlieren wollen, wird es sich nicht lohnen, einen Sitzplatz zu suchen, obwohl die Schauspielerin Wiebke Puls dazu auffordert, einen unter rund 800 freien Plätzen zu wählen. Sich umständlich durch die Reihen zwängen, sich setzen, warten, bis das Licht im Saal ins Dunkel dimmt, bis das Schauen seine Hoffnung nur noch auf einen verschlossenen Vorhang richten kann, das Publikumsraunen stiller wird – all das wird nicht geschehen, die Performance könnte auch im Stehen konsumiert werden. Und dann beginnt Theater doch, der Vorhang gibt ein schwarzes Dreieck auf der leeren Bühne frei, im Marlene-Dietrich-Style steht die Darstellerin zum Spiel bereit.

Auch dieses Bild irritiert. Der schwere grüne Samtvorhang, auf dem nur zarte Blätterstängel sich im Jugendstil nach oben ranken, beißt sich nach Mode-Konventionen mutwillig mit dem fließenden Stoff des Abendkleids in Yves-Klein-stählernem, monochromem Blau, das Puls trägt.

Ein Obolus fürs Taschentuch

Dieser Spot zeigt Kino und Broadway. Dabei war es diese hell gelockte Diva selbst, die der Zuschauerin beim Eintreten den Klingelbeutel über den meterlangen Stab entgegenstreckte. Das war ein Eintritt in die Messe, ergänzt durch die Zeremonie des postmodernen Interaktionismus in der Geste spätkapitalistischer Tauschgeschäfte. Der eine Euro als Obolus war für das weiße Taschentuch mit dem Titel als Werbelogo. Auf der Tränenskala, die Marcel Beyer in Das blindgeweinte Jahrhundert in vielen Facetten beschreibt, wäre es ein Kullern, das Wiebke Puls mir auf der Bühne zeigt. Der Tränengrad aber mag von Zuschauer zu Zuschauer variieren und sich in den anschließenden Aufführungen zu einem Tränenbach ausweiten, dann versiegen, vielleicht neu ausbrechen. Für einen Tränenstrom und für die affektive Ansteckungsgefahr ist der Flash zu kurz. Auch die Apparatur eines Automaten, der Gefühle gegen Groschen tauscht, wird in dem Gesamtkunstwerk nicht sichtbar. In dieser Installation ist Puls Mädchen für alles, Saaldienerin und Therapeutin, die ihr Gegenüber mit Namen kennt, Diskutantin und Tragödienstatue zugleich. Nach diesem ersten All-in-Theatermoment in pandemischen Zeiten wird noch deutlicher klar: Wir brauchen mehr Theater, mehr Publikum, mehr Zeit, mehr Spiel und mehr Applaus.

Info

Money makes me cry Münchner Kammerspiele, Konzept: Jon Bosse

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