Eva Illouz: Am 7. Oktober hörte das Herz der Linken auf, zu schlagen
Essay Waren die Angriffe der Hamas ein normaler Widerstand im Nahost-Konflikt, wie Slavoj Žižek meint? Die israelische Soziologin Eva Illouz antwortet: Wenn die Linke die Rückkehr des mörderischen Antisemitismus nicht spürt, ist das ihr Ende
Eva Illouz ist Soziologin und zählt zu den bedeutendsten linksliberalen Stimmen Israels
Foto: Corinna Kern/laif
Es ist noch gar nicht so lange her, da vertraten Menschen zwar unterschiedliche politische Ansichten, aber diese Uneinigkeit war keine Quelle der Verwirrung. Im Gegenteil, wir waren unterschiedlicher Meinung und wussten genau, warum. Wir benutzten Worte wie „Proletariat“, „Bourgeoisie“, „Revolution“ oder „Imperialismus des Westens“, während das gegnerische Lager Worte wie „Freiheit des Marktes“, „Recht und Ordnung“ und „westliche Zivilisation“ verwendete. Diese Meinungsverschiedenheit verschaffte uns Klarheit, denn indem wir unsere Differenzen markierten, wurden unsere Worte schärfer definiert.
Die Konfrontation zwischen Israel und der Hamas hat einen Prozess ans Licht gebracht, der sich in den let
in den letzten Jahrzehnten im Verborgenen vollzogen hat: Unsere Gedankenwelt hat sich eingetrübt, unsere analytischen und moralischen Kategorien wurden verwirrt und vernebelt. Immer häufiger verweisen die Worte auf ihr Gegenteil, etwa wenn die grausamen Massaker vom 7. Oktober als Akte der Gerechtigkeit und der Befreiung gefeiert wurden. Dunkle Zeiten, so sagte Hannah Arendt, sind Zeiten, in denen unsere Theorien das Reale nicht mehr beschreiben oder erklären können. Psychoanalytiker oder Dichter leben von dieser Ent-artikulation von Worten und Wirklichkeit. Aber wir übrigen haben mit etwas zu kämpfen, das man nur als epistemologische Krankheit bezeichnen kann: mit der Schwierigkeit, die Welt zu verstehen, weil unsere Worte ins Gegenteil verkehrt oder von der Realität abgekoppelt erscheinen.Zu Slavoj Žižeks Vergleich zwischen der Hamas und der israelischen RegierungDieser Zustand der ratlosen Verwirrung tritt in den öffentlichen Interventionen von Intellektuellen wie dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek zu Tage. Žižeks Argumente, so unterschiedlich sie auch sein mögen, kreisen um eine Kernaussage, die ich wie folgt zusammenfassen würde: „Von mir, Žižek, wurde erwartet, dass ich Israel bedingungslos unterstütze, aber ich habe es nicht getan, weil ich eine gemäßigte Position der Mitte vertrete. Ich erkenne den bösen Charakter der Taten der Hamas an, aber als Intellektueller plädiere ich dafür, die Ursachen zu untersuchen, die in der Besatzung zu finden sind.“ Dem fügt Žižek eine zweite These hinzu, die sich von der ersten leicht unterscheidet: „Was auch immer die Hamas an Grausamkeiten deklariert oder begangen hat, die Israelis haben etwas ganz Ähnliches deklariert und getan. Der Staat Israel kann nicht länger vorgeben, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein und hat sich nun de facto in einen theokratischen Staat verwandelt, der der Scharia entspricht. Es ist daher sinnlos, nach Recht und Unrecht, Helden und Schurken zu suchen. Das Einzige, was bleibt, ist, den beiden Gruppen einen Spiegel vorzuhalten und ihnen zu zeigen, dass sie sich in Wirklichkeit ziemlich ähnlich sind, was ich, Žižek, zu sagen wage.“Lassen Sie mich gleich zu Beginn feststellen, dass ich für Žižeks Position weitaus mehr Respekt habe als für viele seiner linken Salongenossen. Žižek erkennt zumindest die Bösartigkeit der Hamas an (was leider nicht selbstverständlich ist, so wie ein großer Teil der Linken in den 1960er Jahren Maos genozidale Mordlust nicht erkannt hatte). Und doch sind Žižeks Argumente fragwürdig und nicht überzeugend. Eine gemäßigte Position zwischen zwei gegensätzlichen Ideen und Werten einzunehmen ist nicht so, als würde man einfach die Entfernung von einem Punkt zum anderen messen, um dann eine gemäßigte Mitte zu finden. Wie der Soziologe Max Weber sagte, ist es keine bessere Garantie für die Wahrheit, in der Mitte zu stehen, als sich klar auf eine Seite zu stellen.Antikolonialer Widerstand oder fundamentalistischer Islamismus?In dem lautstarken Wettstreit der Argumente, den wir in den letzten sechs Wochen zum Konflikt gehört haben, ist die von vielen empfundene Orientierungslosigkeit nicht so sehr auf die Intensität der Meinungsverschiedenheiten zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Unmöglichkeit, einen Konsens über die moralische Bedeutung der Ereignisse zu artikulieren, die sich seit dem 7. Oktober zugetragen haben. Ist die israelische Militäroperation in Gaza legitime Selbstverteidigung oder ein Genozid? Ist die Hamas eine antikoloniale Widerstandsbewegung oder ein Ableger der fundamentalistischen Muslimbruderschaft? Ist der Zionismus eine rassistische Ideologie oder die legitime nationale Bestrebung und Errungenschaft eines Volkes? Welche Ungerechtigkeit verdient unsere Aufmerksamkeit mehr: die von 1.400 auf brutale Weise ermordeten Zivilisten oder die von über 10.000 Zivilisten, die durch die Bombardements der israelischen Armee getötet wurden?Es scheint fast unmöglich, darauf eine Antwort zu geben, denn auch der Begriff der Gerechtigkeit bezieht sich für die verschiedenen Fraktionen der Linken auf völlig gegensätzliche Realitäten: Was für die einen gerecht ist, ist für die andere barbarisch. Die beteiligten Lager berufen sich auf dieselben Werte: Palästinenser und Juden sehen sich selbst als unerträglich verletzlich an; sie lehnen Staatenlosigkeit und Exil gleichermaßen ab; beide Gruppen fühlen sich von internationalen Gremien und Organisationen ungerecht behandelt; beide Gruppen beschuldigen die Gesellschaft des strukturellen Rassismus und Hasses, Antisemitismus für die eine Gruppe und Islamophobie für die andere; beide Seiten sehen sich als Opfer der Barbarei der anderen und bezeichnen die Massaker vom 7. Oktober und die anschließende militärische Reaktion darauf tatsächlich mit demselben Namen: „Genozid“. Diese hochgradig verwirrte Sprache, die von zwei Seiten verwendet wird, die entgegengesetzte Interpretationen der Wirklichkeit vertreten, ist verantwortlich für die vielleicht tiefste Krise der Linken seit Chruschtschows Bericht über die Verbrechen Stalins 1956.Bevor ich meinen Standpunkt darlege, muss ich die Grundannahmen explizit machen, die meinen Ideen zugrunde liegen. Keine Diskussion kann ehrlich geführt werden, wenn man die Annahmen, von denen man ausgeht, nicht klar ausspricht.Der Zionismus, der Staat Israel und die Staatenlosigkeit der PalästinenserGrundannahme Nummer eins: Der Zionismus ist nicht nur legitim, sondern notwendig, weil die Juden einen Staat brauchen, mehr noch als die meisten anderen Menschen auf der Welt. Wie uns in den letzten sechs Wochen schmerzlich vor Augen geführt wurde, wird der mörderische Antisemitismus so schnell nicht verschwinden. Der Zionismus war kein koloniales Projekt von der Art, wie es der englische oder spanische Siedlerkolonialismus in Amerika waren, denn er rettete ein Volk vor möglichen mehrfachen Genoziden.Grundannahme Nummer zwei: Palästina wurde als nationale Heimstatt der Juden gewählt, weil es dort in den vergangenen zweitausend Jahren eine kontinuierliche jüdische Präsenz gegeben hat. In der komplexen Kolonialpolitik vor und nach dem Ersten Weltkrieg hat England sowohl die Juden als auch die Araber auf raffinierte Weise manipuliert und so einen langfristigen Konflikt heraufbeschworen, aber letztlich auch dazu beigetragen, die Legitimität des jüdischen Nationalismus zu begründen. Es gibt keinen Weg zurück, es gibt nicht die Möglichkeit, 7 Millionen Juden aus ihrem Land zu vertreiben, wie der Slogan „From the river to the sea“ (Vom Jordan bis zum Mittelmeer) zu suggerieren scheint. Das bedeutet auch, dass die Juden wie alle anderen Menschen das Recht haben, das politische System zu bestimmen, unter dem sie leben. Ob sie in einer Demokratie oder einer Autokratie leben, macht Israel als Staat nicht mehr oder weniger legitim.Grundannahme Nummer drei: Die Gründung des Staates Israel hatte die Vertreibung von 750.000 Palästinensern zur Folge. Auch wenn die Palästinenser den von der UNO angebotenen Teilungsplan und die nachfolgenden Friedensinitiativen abgelehnt haben, trägt Israel eine moralische und politische Verantwortung dafür, die Staatenlosigkeit der Palästinenser zu beenden. Diese Verantwortung ist umso dringlicher, als Israel die 1967 eroberten Gebiete auf unrechtmäßige und sogar kriminelle Weise besetzt hält.Der 7. Oktober war eine radikale Umwälzung jüdischer RealitätBis zum 7. Oktober konnte der Konflikt zwischen Israel und der Hamas als ein kolonialer militärischer und territorialer Konflikt interpretiert werden. Doch für die meisten Juden innerhalb und außerhalb Israels stellt der 7. Oktober einen dramatischen Umbruch dar. Eigentlich mehr als ein Umbruch: ein Erdbeben, eine radikale Umwälzung der Realität selbst. Im jüdischen Bewusstsein bilden die Massaker vom 7. Oktober und die weltweite Verharmlosung des Ereignisses durch die Linke nun ein einziges und einzigartiges Ereignis, welches das Gespenst des mörderischen Antisemitismus wieder auferstehen ließ, von dem man dachte, es sei verschwunden oder nur noch eine Randerscheinung. Was diese Ereignisse zu einer Quelle verstörenden moralischen Terrors für Juden macht, ist, dass das von den Gruppen ausging, die wir für unsere Verbündeten hielten, Gruppen, mit denen wir gekämpft haben und von denen wir dachten, dass wir die Welt mit ihnen teilen (Black Lives Matter ist vielleicht das schmerzhafteste Beispiel). Mörderischer Antisemitismus wurde nicht nur blitzschnell internationalisiert, sondern nahm auch das Gewand und die Verkleidung des Kampfes gegen den Kolonialismus an. Plötzlich waren die Juden ein weiteres Mal die Quelle allen Übels geworden.Slavoj Žižek nun betrachtet den 7. Oktober als eine Variation über die Besatzung und übersieht – erstaunlich für einen Lacanianer – einen anderen, weitaus mächtigeren historischen Erzählstrang, nämlich den des erstaunten Schreckens, mit dem wir, die Juden, dem Schauspiel der Wiedergeburt eines Antisemitismus beigewohnt haben, der so selbstgerecht und tiefgehend ist wie seine dunklen Vorgänger. Nur Gleichgültigkeit kann ein solches Versäumnis erklären. Nur echte und tiefe Gleichgültigkeit gegenüber den Juden kann die Blindheit gegenüber dem genozidalen Antisemitismus der Hamas erklären, gegenüber ihrer Absicht, die in Israel lebenden Juden auszurotten und vielleicht auch die Juden anderswo. Teile der Linken halten die Hamas wahrscheinlich für eine moderne islamische Version der romantischen Anarchisten der russischen Revolution.Wieso sieht Žižek das Aufflammen des Antisemitismus nicht?Unter Berufung auf einen Hadith aus dem Sahih al-Bukhari heißt es in der Hamas-Charta aus dem Jahr 1988, dass der Tag des Jüngsten Gerichts nur dann kommen wird, wenn die Muslime die Juden töten. In der überarbeiteten Charta von 2017 heißt es, dass die Hamas „den Dschihad gegen Israel bis zu dessen Zerstörung“ führen wird. Bis zum 7. Oktober haben Israelis diese Worte nicht wirklich ernst genommen. Aber die triumphierende Barbarei, mit der sie Menschen enthaupteten, Frauen so brutal vergewaltigten, dass ihre Hüften von ihren Körpern ausgerenkt wurden, und Kinderkörper verbrannten, lässt keinen Zweifel mehr an ihrer genozidalen Absicht aufkommen.Wie kann Žižek, konfrontiert mit dieser Realität, den Ball in die Mitte des Platzes schicken? Jedes intellektuell ehrliche Erfassen der Wirklichkeit hätte zuerst eine angemessene Anerkennung der Tatsache verlangt, dass der mörderische Antisemitismus zurück ist.In einem berühmten Austausch zwischen Gershom Scholem und Hannah Arendt über die Art und Weise, wie Arendt über den Eichmann-Prozess berichtet hatte, warf der bedeutende Gelehrte der jüdischen Mystik der Philosophin Kälte und Distanz vor. „Gäbe es wirklich bei solchem Anlass nicht Platz für das, was man mit dem bescheidenen deutschen Wort Herzenstakt nennen dürfte?“Die Linke braucht ein Herz – oder sie wird überflüssigIch möchte Sie, Slavoj Žižek, Sie und Ihre salonlinken Genossen fragen: Warum gab es keinen Platz für solchen Herzenstakt? Konnten Sie kein Mitgefühl für den unfassbaren Schock und Schmerz zeigen, die Juden erfahren haben? Warum konnte die Linke nicht eine kurze Woche lang in Stille mit uns trauern, bevor sie sich in ihre dozierenden Analysen stürzt? Warum scheinen Sie und so viele andere den Antisemitismus dermaßen auf die leichte Schulter zu nehmen, als sei der Hass auf Juden die natürliche Grundhaltung der Welt? Wir hätten um alle drei zusammen trauern können: um die ermordeten Israelis, um die von Antisemitismus bedrohten Juden in der ganzen Welt und um die unschuldigen Palästinenser, die von israelischen Bomben zerfetzt werden.Gershom Sholem hatte Recht: Arendt versagte bei einer fundamentalen Herzenspflicht. Aber sie versagte auch in einem anderen, nicht weniger wichtigen Punkt: Sie verzerrte die Wahrheit und missverstand Eichmann zutiefst. Es war ihre emotionale Distanz, die ihre intellektuelle Verwirrung verursachte.Eichmann war kein banales Rädchen in einer bürokratischen Maschine, sondern ein Schlächter. Wenn sie Schlächter nicht mehr von Bürokraten, Befreiungskämpfer nicht mehr von barbarischen Fundamentalisten unterscheiden kann, dann wird die Linke unglaubwürdig und belanglos. Täuschen Sie sich nicht: Diese Verwirrung wird einen bleibenden Schandfleck auf jenem Lager hinterlassen, das sich nicht länger „Linke“ nennen darf.
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