Debatte Erneut bezeichnete die Philosophin Judith Butler den Terroranschlag der Hamas als „bewaffneten Widerstand“. Die israelische Soziologin Eva Illouz erklärt hier, warum solche Äußerungen für sie weder links noch antirassistisch sind
Zwei Ikonen der feministischen Theorie sind entzweit: Judith Butler und Eva Illouz
Collage der Freitag: Clemens Fabri/picture alliance (links), Corinna Kern/laif
Als „Quacksalber“ bezeichnete man ursprünglich Händler, die zweifelhafte Tinkturen oder Salben als Heilmittel verkauften. Im 18. und 19. Jahrhundert war in den USA sogenanntes „Schlangenöl“ sehr beliebt. Dabei war dieses Öl, das ursprünglich aus der chinesischen Medizin stammt, keineswegs frei von heilenden Eigenschaften – es war nur nicht jenes wahre Wundermittel gegen jedes Leiden, als das es nun beworben wurde. Obendrein begannen aus Europa stammende Kurpfuscher, Paraffin mit unwirksamen Kräutern zu vermischen und als „Schlangenöl“ zu verkaufen. Diese Quacksalber waren also doppelte Betrüger, und ihre Kunden waren doppelt Betrogene, eine kleine Täuschung wurde zu einer großen Täuschung.
Judit
Judith Butlers jüngste Äußerungen über die Hamas und die grausam ermordeten israelischen Frauen erinnern uns daran, dass auch Intellektuelle Kurpfuscher und Hochstapler sein können, dass sie uns in Worte verpacktes Schlangenöl verkaufen können, weil ihre Worte eine kleine Täuschung mit einer anderen verdecken, sodass am Ende eine Halbwahrheit ein ganzes Lügengebäude stützt und nährt.Ich war verwundert, als ich Judith Butlers Aussagen bei der Diskussionsrunde eines Kollektivs antikolonialer und antizionistischer Vereinigungen am 3. März in Paris las, wo sie das Massaker der Hamas am 7. Oktober als „bewaffneten Widerstand“ bezeichnete. Verwundert, obwohl ich nicht überrascht hätte sein sollen. Schließlich ist es dieselbe Judith Butler, die 2006 die Hamas und die Hisbollah als Teil der globalen Linken gepriesen hatte. Ich hätte nicht überrascht sein sollen, denn es war dieselbe Person, die 2018 der wegen sexueller Belästigung angeklagten Avital Ronell, Professorin für vergleichende Literaturwissenschaft an der New York University, zu Hilfe kam. Obwohl Butler sich später von dem Unterstützerbrief distanzierte, den auch Slavoj Žižek und Barbara Vinken unterschrieben, verteidigte sie Ronell zunächst ohne jegliche Kenntnis des Falls, nur aufgrund ihrer Bekanntschaft, wie in einem guten alten Boysclub. Es ist auch dieselbe Person, die wenige Tage nach dem 7. Oktober die Hamas als Widerstandsbewegung bezeichnete. Und dennoch war ich erstaunt, aus ihrem Mund die frauenfeindlichste Aussage zu hören, die ich je gehört habe, und das von einer Ikone der Queer-Bewegung.Leugnung von Vergewaltigung? Als Feministin disqualifiziertMehr als ein Jahrhundert lang hat der Feminismus darum gekämpft, dass die Stimmen der Frauen gehört werden – und dass ihnen geglaubt wird. Es brauchte 100 Jahre des unerbittlichen Kampfes und den Tsunami von #metoo, bis Menschen begannen, die Nöte ernst zu nehmen, die durch sexuelle Belästigung und Vergewaltigung entstehen. Doch angesichts der unerhörten sexuellen Gewalt, die israelische Frauen durch Hamas-Kämpfer erlitten haben, angesichts der Berichte und Untersuchungen der New York Times, von Anwälten, Ärztinnen, NGOs, Journalistinnen und Bürgern, die alle von sexueller Gewalt berichten, von Vaginalverstümmelung, blutverschmierten Frauenkörpern, mit Nägeln gefüllten Vaginas, abgerissenen und mit einem Messer abgeschnittenen Brüsten – was sagt uns Judith Butler angesichts all dessen? Auch angesichts der weltweit veröffentlichten Bilder einer jungen Frau, die getötet und unter den Sprechchören der Menge auf einer Straße in Gaza vorgeführt wird? Dass sie Beweise will.„Ob es Belege für die Behauptungen gibt oder nicht, die über die Vergewaltigung israelischer Frauen gemacht wurden“ – skeptische Grimasse – „okay, wenn es Belege gibt, dann beklagen und verurteilen wir das, absolut keine Frage. Aber wir wollen diese Belege sehen.“ Die skeptische Miene, die Butler bei diesen Worten machte, ist wohl die gleiche, die ein Polizist vor 50 Jahren machte, als eine Frau versuchte, Anzeige zu erstatten, und er Beweise für die an diesen Frauen begangenen Gräueltaten verlangte, obwohl es bereits eine schwindelerregende Menge an Beweisen gab.Judith Butler hat ihre Karriere darauf aufgebaut, Begriffe wie Objektivität, Essentialität und Wirklichkeit in Frage zu stellen. Aber jetzt verlangt sie eine Mega-Objektivität, einen Mega-Beweis, eine Objektivität jenseits der verfügbaren Rekonstruktionen, Bilder, Videos und forensischen Analysen. Und da sie ein mitfühlendes Herz hat, kündigt sie an, dass sie die Vergewaltigungen „beklagen“ würde, wenn diese Beweise geliefert würden. Die Unanständigkeit von Butlers Worten entweiht das Gedenken an jene Frauen, die gefoltert und vergewaltigt, erschossen oder erstochen wurden. Sie disqualifizieren Judith Butler für immer, zu den Feministinnen gezählt zu werden.Die Hamas ist nicht antisemitisch?Die zweite Täuschung besteht darin, uns glauben machen zu wollen, dass die barbarischen Taten vom 7. Oktober das Ergebnis dessen sind, was Butler schüchtern mit dem romantischen Namen „Widerstand“ benennt. Butler scheint ein oder zwei Dinge von Donald Trump gelernt zu haben, denn sie kann sich hervorragend auf alternative Fakten berufen, wenn sie behauptet, die Hamas sei weder terroristisch noch antisemitisch. Eine wohlwollende Interpretation dieser Äußerungen wäre, dass sie wie Trump nur die Disney-Version des Nahostkonflikts kennt, ohne sich jemals die Mühe gemacht zu haben, die beiden Chartas der Hamas (1988, 2017) zu lesen oder sich die vielen genozidalen Äußerungen von Mitgliedern dieser Organisation anzuhören.Eine solche Ignoranz könnte amüsant sein, wenn sie nicht einerseits Juden und Israelis akut gefährden würde und andererseits die palästinensische Sache akut in Verruf brächte, die etwas Besseres verdient hat als eine derart flapsige Verteidigung. Die Palästinenser sind ebenso wie die Israelis von internen Konflikten zwischen Fundamentalisten und Pragmatikern zerrissen, zwischen denen, die um heiliges Land kämpfen, und denen, die einen politischen Kompromiss wollen, zwischen denen, die bereit sind, für ihre Sache zu sterben, und denen, die immer noch hoffen, dass diese beiden Völker Seite an Seite leben können.Blutrünstige Fundamentalisten als Widerstandskämpfer zu bezeichnen, verwischt jeden Unterschied zwischen diesen beiden Lagern. Es rechtfertigt die Taten jener, die ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen und die in völliger Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Volk gehandelt haben. Wenn wir den Palästinenserinnen und Palästinensern, die heute vom Fundamentalismus und dem grausamen Krieg Israels bedroht sind, mit aller Kraft helfen wollen, wenn wir wollen, dass diese Bevölkerung, die unter verbrecherischen Anführern und der israelischen Besatzung leidet, endlich in Würde und Unabhängigkeit leben kann, dann müssen wir den plumpen Linksradikalismus von Judith Butler energisch zurückweisen.Was heißt es, links zu sein? Tragik aushaltenDie dritte Täuschung ist diejenige, die uns glauben machen will, dass Butler mit diesen Äußerungen gegen Rassismus kämpft. Butlers Positionen nach dem 7. Oktober riechen vielmehr nach einer neuen Art von Leugnung. Die bekannteste politische Praxis der Leugnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie Zweifel an der Zahl der Opfer des Holocaust, an der Wahrhaftigkeit der Massaker und an der Schuld der Täter sät. Butler bedient sich ähnlicher Muster. Sie sät Zweifel an der von Frauen erlittenen Gewalt und an der moralischen Bewertung der Massaker: Die Täter werden entlastet und die Opfer verdächtigt, teils sogar als erfunden dargestellt.Die Tatsache, dass Judith Butler als Jüdin und Frau geboren wurde, sollte uns nicht davon abhalten, hier zwei Formen der Leugnung zu erkennen: die Leugnung der Abschlachtung von Frauen und die Leugnung der moralischen Schuld an der Abschlachtung von Juden.Letztendlich ist die größte Täuschung jene, die uns glauben machen will, Judith Butler sei eine Vertreterin der Linken. Butler und ihren Gefolgsleuten muss das Recht abgesprochen werden, sich den Namen der Linken anzueignen. Die Butler’sche Gender-Theorie war das ursprüngliche vermeintliche Allheilmittel, mit dem sie uns dann in rauen Mengen Paraffin verkauft hat. Es ist Zeit – und zwar höchste Zeit –, den Schwindel zu entlarven.Die Linke kann nicht auf der Seite derer stehen, die Homosexuelle von Dächern werfen, Frauen einsperren, sich über das wahllose Massaker an jungen Pazifisten freuen, die tanzten und das Leben feierten, sie kann nicht auf der Seite derer stehen, die den Völkermord an den Juden zum Programm haben. Die wahre Linke, die einzige Linke, ist diejenige, die die tragische Unlösbarkeit bestimmter Konflikte anerkennt, weil sie sich weigert, die Rechte eines Volkes auf Kosten eines anderen zu verteidigen.Die Linke, die echte Linke, zieht das zerbrechliche Versprechen unvollkommener Gerechtigkeit immer dem sicheren Hass betrügerischer Selbstgerechtigkeit vor.
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