Slavoj Žižek: Israels Regierung verkörpert nicht länger unsere westlichen Werte
Essay Während sich in Gaza die zerstörerische Kraft des Fortschritts zeige, kämpfe die Ukraine für europäische Werte: Slavoj Žižek kommt angesichts der aktuellen Kriege zu ganz unterschiedlichen Positionen. Der Ruf nach Frieden ist nur eine davon
Zwei Kriege spalten die Menschen in Europa: Angesichts der brutalen Gewalt in der Ukraine und in Gaza ringen wir um eine politische Positionierung. Auf dieser verwirrten Suche zirkulieren verschiedene Ansätze. Zunächst ist da eine Version, die von Liberalen bis Rechten vertreten wird: In der Ukraine wie auch in Israel wird ein demokratischer europäischer Staat brutal von einem despotischen Staat (oder einer ebensolchen Gesellschaft) attackiert. Daher verdienen die Ukraine und Israel volle Unterstützung. Eine pseudolinke Version dieser Parallelsetzung lautet: Die Ukraine provozierte (ähnlich wie Israel) selbst einen Krieg, indem sie die Region Donezk (ähnlich wie Gaza) wahlweise terrorisierte oder nicht einfach Russland überließ, sodass Russland (wie
ie die Hamas) diese Situation nicht länger tolerieren konnte. Schließlich ist da noch der Standpunkt der Friedensbewegten: Krieg ist immer böse. Daher sollten wir in der Ukraine wie in Gaza sofortige Friedensverhandlungen fordern.Ich stimme keinem der drei Standpunkte zu, auch nicht dem letzten: weil man dabei vergisst, dass Frieden regelmäßig den Besatzern dient. Natürlich wollen die Besatzer Frieden – nach der Eroberung. So warf Israels Premierminister Benjamin Netanjahu dem US-Präsidenten Joe Biden kürzlich vor: „Diejenigen, die sagen, dass wir unter keinen Umständen in Rafah einmarschieren sollten, sagen im Grunde, dass wir den Krieg verlieren werden.“ Die Frage lautet also: Sollten wir in Gaza und sollten wir in der Ukraine für eine Verhandlungslösung sein?Im Januar erklärte Donald Trump bei einer Wahlkampfveranstaltung, der Amerikanische Bürgerkrieg hätte durch „Verhandlung“ vermieden werden können. Der Krieg um die Beendigung der Sklaverei in den USA sei letztlich unnötig gewesen. Laut Trump hätte der damalige Präsident Abraham Lincoln mehr dafür tun müssen, das Blutvergießen zu vermeiden: „So viele Fehler wurden gemacht. Um ehrlich zu sein, bin ich überzeugt, ich hätte da etwas verhandeln können. (...) All die Menschen, die gestorben sind. So viele Menschen starben.“ Trump versucht in dieser Analogie, seine Überzeugung deutlich zu machen, den Ukraine-Krieg als US-Präsident innerhalb von 24 Stunden durch Verhandlungen beenden zu können. Ähnliche Ansichten über verpasste Verhandlungschancen in der Vergangenheit kann man sich ausmalen: Hätte Großbritannien 1940 den „großzügigen“ deutschen Friedensplan akzeptieren sollen, der dem Land erlaubt hätte, sein gesamtes Kolonialreich zu behalten?Mut zu einer Kritik an Israels Regierung, die etwas bewirktVerhandlungslösungen sind nicht zu jedem Zeitpunkt die besten Lösungen. In den aktuellen Kriegen ist der richtige Standpunkt meiner Ansicht nach: bewaffneter Widerstand gegen Russland in der Ukraine, aber Frieden und Verhandlungen im Gaza-Krieg. Das hat etwas mit den Folgen dieser Kriege zu tun – der Nahe Osten ist ein Pulverfass. Aber es hat auch etwas mit unserem moralischen Kompass zu tun.Einige meiner deutschen Freunde sind überzeugt, dass wir Israel bedingungslos unterstützen sollten, weil es die einzige Insel der Freiheit und Demokratie, kurz: westlicher Zivilisation im Nahen Osten sei. Wenn dem so ist, kann dann die ganze Welt in Gaza Tag für Tag sehen, wie ein Land, das sich auf westliche Zivilisation und Humanitarismus beruft, in der tatsächlichen Praxis handelt? Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin unbedingt dafür, die humanitären Werte gerade in diesen Zeiten hochzuhalten. Und genau deshalb ist eine akkurate Kritik an Israels Regierung eine unabdingbare Voraussetzung für eine Lösung im Nahen Osten. Daher finde ich es zum Kotzen, dass einige Deutsche, die mich wegen meiner Haltung zu Israel und Gaza öffentlich angegriffen haben, später im Stillen auf mich zukamen und sagten: Sie stimmten mir ja eigentlich zu, aber jetzt sei nicht der Moment, es öffentlich zu sagen. Warum? Weil diese öffentliche Kritik tatsächlich einen realen Effekt hätte. Sie wird erst sagbar sein, wenn sie nichts mehr bedeutet.Und so zieht sich ein großer Teil der Linken auf eine schwierige Position zurück: „Nur gucken und entsetzt sein, nicht nachdenken und analysieren!“ Die Horrortaten der Hamas wurden und werden als abgründiges Übel behandelt, das nicht eingeordnet werden kann. Aber Israels Gegenangriff? Ist ein legitimer Akt der Verteidigung: Was konnte Israel nach diesem Massaker anderes tun, als die Bedrohung zu zermalmen und die Hamas zu zerstören? Hier scheint ein Paradox auf: Auf eine absurde Art wird in dieser Argumentation die Hamas zum einzigen wahrhaft freien Akteur. Israel aber ist getrieben von den Umständen.Die Mehrheit ist für eine Waffenruhe in GazaSelbst im industrialisierten Westen ist die Mehrheit der Menschen für eine Waffenruhe in Gaza, während sich ihre Regierungen kaum dafür einsetzen. Der Forderung nach einer Feuerpause folgt nur wenig Druck. Hier wächst ein Spalt zwischen Bevölkerung und Regierungen, der unvorhersehbare Konsequenzen haben kann. Die indische Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy sagte, wenn die Bombardierung Gazas weitergehe, dann „wird die moralische Architektur des westlichen Liberalismus aufhören zu existieren. Sie war immer heuchlerisch, wie wir wissen. Aber sie bot immerhin eine Art Schutz. Dieser Schutz verschwindet direkt vor unseren Augen.“ Hier passiert etwas: Unser grundlegendes moralisches Gebäude ist nicht nur heuchlerisch (wie wir es schon kennen, aus dem Kolonialismus oder aus der Sklaverei etwa). Mit dem Gaza-Krieg hat diese moralische Architektur unserer Gesellschaft auch noch die heuchlerische Kraft ihres Anscheins verloren – in ihm und mit ihm wird der Schein nichts als ein Schein, kein Schein mehr, der auf seine eigene Wahrheit verweist.Entscheidend ist Arundhati Roys Aussage, dass das liberale moralische Gebäude im Westen trotz der Heuchelei „eine Art Schutz bot“. Erinnern Sie sich an Proteste auf dem Tian’anmen-Platz in Peking 1989: Die protestierende Menge baute eine einfache Kopie der Freiheitsstatue und tanzte um sie herum. Es wäre zu einfach, das als eine Begeisterung für den „amerikanischen Traum“ abzutun: Was die chinesische Menge in die Statue projizierte, war eine Mischung aus politischer und persönlicher Freiheit sowie sozialer Gerechtigkeit und Gemeinwohl – ein Emanzipationswunsch.Von Peking 1989 über den Maidan bis HongkongWar es nicht das Gleiche, als die protestierenden Studierenden in Hongkong 2019 den US-Präsidenten (Donald Trump!) anriefen, ihre Autonomie zu schützen? Und wenn in den vergangenen Jahrzehnten „Regenbogen-Revolutionen“ in der Ukraine, Belarus und anderen Ländern stattfanden, dann war ihre Beitrittsforderung zur EU nicht davon motiviert, was die EU zu dieser Zeit politisch real unternahm – sondern von dem, wofür „Europa“ in ihren Augen stand: für Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt. In gewissem Sinne waren viele Demonstranten auf dem Euromaidan 2013 und 2014 europäischer als die Mehrheit der Westeuropäer. Auf diese Art und Weise bot das westeuropäische moralische Gebäude tatsächlich „eine gewisse Art Schutz“: Es diente uns als moralischer Kompass.Wenn dieser moralische Kompass nur heuchlerisch war, warum sollten wir das Verschwinden solch eines heuchlerischen Schutzes nicht als gute Sache begrüßen? Würde uns die Beseitigung dieser Heuchelei nicht in die Lage versetzen, ein authentischeres moralisches Gebäude zu bauen?Meine Antwort ist: Die Heuchelei moralischer Werte ist unendlich viel besser als brutale Gewaltausübung. Sie hält Standards aufrecht, mit deren Hilfe wir beurteilen können, was wir tun. Auf allgemeinerer Ebene gilt dies auch für die universellen Menschenrechte: Ja, sie bargen Heuchelei, weil ihre Universalität propagiert wurde, während sie nur für einen Bruchteil der Bevölkerung galten (nicht für Kolonisierte, nicht für Schwarze, nicht für Frauen). Aber das Festhalten an diesen universellen Menschenrechten setzte einen langen Prozess ihrer Selbstkorrektur in Bewegung.Daher sollten wir auf „universalen“ Ansprüchen wie den Menschenrechten bestehen und der Versuchung widerstehen, sie als imperialistisches Herrschaftsinstrument zu „dekonstruieren“ – entgegen der antiwestlichen Haltung mancher Cancel-Kultur. Wir sehen ja, was uns außerhalb dieses Raumes in der blockfreien Gruppe der BRICS-Staaten erwartet, insbesondere jetzt, da Saudi-Arabien und der Iran beigetreten sind: gegenseitige Toleranz – gegenüber ihren Verbrechen.Nie wieder HolocaustDie eigentliche Frage ist nun, wie sich das westliche emanzipatorische Erbe wirklich lebendig halten lässt. In Deutschland sind derzeit die Worte „Nie wieder“ zu hören: Wir sollten alles tun, um zu verhindern, dass so etwas wie die Shoah noch einmal passiert. Jürgen Habermas etwa, der letzte große Vertreter der Frankfurter Schule, unterschrieb einen Brief zur vollen Unterstützung der Regierung Israels. Der italienische Philosoph Franco Berardi reagierte darauf: Heute müssten „aus einer deutschen Sicht die Worte ‚Nie wieder‘ so interpretiert werden: Nachdem wir sechs Millionen Juden, zwei Millionen Roma, 300.000 Kommunisten und 20 Millionen Sowjetbürger getötet haben, werden wir, die Deutschen, Israel unter allen Umständen schützen, weil es nicht mehr der Feind unserer überlegenen Rasse ist, sondern dazugehört.“Diese Zeilen mögen zu hart erscheinen. Aber es ist wichtig zu beachten, dass Jürgen Habermas ein großer Verfechter des Erbes der Aufklärung ist. Eines seiner bekanntesten Werke ist Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, eine Kritik nicht nur am französischen postmodernen Denken, sondern auch an Theodor Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung. Kurz gesagt betrachtet Habermas die Schrecken der letzten Jahrhunderte, vom Kolonialismus bis zum Massenmord an Millionen von Menschen im Holocaust, als Zeichen dafür, dass das Projekt der Aufklärung noch nicht vollständig verwirklicht ist. Berardi hingegen erinnert uns daran, was Horkheimer und Adorno 1941 schrieben: dass der Begriff des aufklärerischen Denkens sowie Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, „schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. Indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter.“Genau das passiert bei der problematischen Unterstützung von Israels Vorgehen in Gaza und der Westbank durch viele westliche Intellektuelle: Sie nehmen den Staat und mit ihm die Regierung Israels als Verkörperung der europäischen Aufklärung in einem „weniger fortschrittlichen Teil der Welt“ wahr und ignorieren damit, dass das, was Israel derzeit mit den Palästinensern macht, von der „zerstörerischen Seite des Fortschritts“ zeugt. Ein Schwarzer Amerikaner besuchte kürzlich Hebron, um die weitverbreitete Meinung zu überprüfen, die Lage dort sei sehr komplex. Er stellte fest, dass die Lage in Hebron sehr einfach ist: keine Komplexität, sondern offene und brutale Unterdrückung, die an die Regeln der Apartheid erinnern.Die allgemeine Lehre, die sich daraus ziehen lässt, ist: Wenn wir der Zerstörung entgegentreten wollen, die uns seit Jahrzehnten plagt – vom Aufstieg neuer Formen des Populismus, neuer Formen sozialer Kontrolle bis zur Eskalation von Konflikten in brutale Gewalt –, dann müssen wir unseren kritischen Blick auf das philosophische Fundament der heutigen freiheitlichen Demokratie richten: die Universalität der Menschenrechte, den Gedanken der Aufklärung.
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