Es gibt eine Aufführung, auf die ich sehr gespannt bin, es ist der Soloabend des Grazer Puppenspielers Nikolaus Habjan am Deutschen Theater in Berlin, Mitte Februar. Gezeigt wird sein inzwischen schon legendäres Solostück F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig, das er seit 2012 bereits mehr als 600-mal auf österreichischen Bühnen gespielt hat. Habjan gilt als Meister seines Fachs.
Vor ein paar Jahren saß ich im Auto und hörte im Deutschlandfunk ein langes Interview mit Nikolaus Habjan. Die Moderatorin wies im Gespräch unermüdlich darauf hin, wie bekannt, ja wie berühmt Habjan sei; nicht nur als Puppenspieler, sondern auch als Kunstpfeifer! „Kunstpfeifer?“, dachte ich und lachte in mich hinein. Doch dann fing Habjan an, von den Geschichten zu berichten, die er mit seinen Klappmaulpuppen erzählt, und bald war ich so bewegt, dass ich aufpassen musste, nicht von der Fahrbahn zu schlingern.
Im Stück F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig geht es um die unfassbare Lebensgeschichte von Friedrich Zawrel. Das Heimkind wird im Spiegelgrund, der „Kinderfachabteilung“ des Deutschen Reiches in Wien, vom Anstaltsarzt Dr. Gross als „erbbiologisch und sozial minderwertig“ eingestuft und mit grausamen Experimenten gequält. Er kann entkommen, schlägt sich später als (jugendlicher) Kleinkrimineller durch die Straßen und gerät dadurch immer wieder ins Gefängnis. Als hier eines Tages wieder einmal ein psychiatrisches Gutachten erstellt werden soll, sieht er sich seinem Gewalttäter, dem ehemaligen Euthanasiearzt Dr. Gross, gegenüber. Gross, der bis hierher als Arzt unbehelligt geblieben war und juristisch für seine Morde (wie in den allermeisten dieser Fälle) nie belangt wurde, schlägt einen Deal vor: Er würde Zawrel ein positives Gutachten erstellen, wenn dieser über die an ihm verübten Experimente schweigen würde. Zawrel schlägt das aus und strengt unter großem Aufwand und mit wenig Unterstützung ein Gerichtsverfahren gegen Gross an, das im Jahr 2000 eingestellt wird: Der Mörder leidet angeblich unter Demenz und kann sich an nichts erinnern.
Seltsam, dass Täter die Gabe des Vergessens besitzen und die Opfer nie.
Habjan schafft Bühnenkunst für unsere Gegenwart
Ich weiß noch, wie erschüttert ich damals in dem Auto saß angesichts dieser ungeheuerlichen Geschichte. Wie beeindruckt ich davon war, wie Habjan von den Gesprächen und Begegnungen erzählte, die er mit Zawrel gehabt hatte und wie er versucht hat, dessen Leben in eine Puppentheaterinszenierung zu übersetzen, damit er nicht vergessen wird. Gleichzeitig leuchtete mir ein, dass eine so gewaltvolle Geschichte, in der es um psychische und physische Experimente an Kindern geht, durch Puppen wahrscheinlich am besten erzählt werden kann. Man stelle sich nur vor, zwei Schauspieler würden versuchen, einem das vorzuspielen.
Puppenspiel ist, so sagt man ja, die Kunst, dem unbelebten Objekt Leben einzuhauchen. Wenn das Theater eine Bühne der Geister, der unheimlichen Wiedergänger ist – der Figuren, Menschen, Charaktere und Geschichten –, die jeden Abend aufs Neue heraufbeschworen werden, so gilt das für die Puppen erst recht: Vor unser aller Augen werden sie in einem bewussten Vorgang als totes Material verlebendigt. Wie das Monster von Frankenstein wachen sie auf und verlangen, dass man ihre Geschichte anhört. Und auch das Böse ist dann in der Puppe wie gebannt: Ob und wie es hervortreten darf, liegt nicht in der Macht des Bösen selbst, sondern in der Hand dessen, der die Fäden in der Hand hat. Und das kann, wie in diesem Fall, auch endlich in umgekehrter Weise das Opfer sein.
Vielleicht ist Puppenspiel deshalb die passende Bühnenkunst für unsere Gegenwart, in der die Erinnerung und die Frage, an wen und was wir überhaupt erinnern, wieder so existenziell und entscheidend geworden sind.
F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig von und mit Nikolaus Habjan, Regie: Simon Meusburger Deutsches Theater Berlin
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.