Dating-App Grindr galt lange als Safespace für seine Nutzer. Doch die Kritik am Umgang des Anbieters mit persönlichen Daten wird lauter. Unter anderem soll der HIV-Status der User mit Dritten geteilt worden sein
Stellen Sie sich vor, Sie sind Teil einer Minderheit und suchen nach Möglichkeiten, andere Angehörige dieser Minderheit zu finden. Wie ist das möglich, ohne dabei in Gefahr zu geraten, womöglich erkannt und stigmatisiert zu werden? Und die genau deshalb vielleicht auch nicht alle sofort gefunden werden wollen? Für diejenigen, deren sexuelle Orientierung jenseits der vorgeblich monogamen Standard-Mann-Frau-Beziehungen lag, war das bis zur Erfindung des Internets an vielen Orten ein echtes Risiko. Doch auch die schöne neue Welt hat ihre Tücken – und die liegen nicht zuletzt im Geschäftsmodell begründet.
Die Idee der Safe Spaces, sicherer Orte, ist etwas, was vor allem die Queer-Community in den langjährigen Zeiten der Strafbarkeit von Ho
eit von Homosexualität etablierte. Zur Erinnerung: Erst 1968 wurde in der DDR der „Schwulenparagraf“ 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Noch viel später, erst 1994 verschwand er endlich in der Bundesrepublik. Verurteilungen danach wurden erst 2017 aufgehoben. Community-Orte waren auf der einen Seite Schutzräume für stigmatisierte, auf der anderen Seite stets selbst mögliches Ziel von Übergriffen. Und je weiter auf dem Land, desto unwahrscheinlicher war es, dass solche Möglichkeiten überhaupt bestanden.Das Internet, das fast zeitgleich mit der zumindest gesetzlichen Akzeptanz in Deutschland aufkam, wurde auch deshalb für viele zu einer Art Befreiung: Sie wurden sichtbarer, untereinander, fanden zueinander. Und das, ohne dass sie schon bei der Suche danach böswillige, abwertende Zeitgenossen befürchten mussten. Ob eigene Identitätssuche, Lebenshilfe, Liebe, Sex oder auch Krankheiten: Mit dem Netz kamen ganz neue Möglichkeiten, ohne großes eigenes Risiko zueinanderzufinden. Plattformen wie Gayromeo wurden schnell populär. Die wohl bekannteste und zugleich umstrittenste ist jedoch Grindr, 2009 gegründet. Und damit drei Jahre älter als das noch viel bekanntere heteronormativ orientierte Tinder – die Wischfunktion für mögliche „Matches“, also passende Profile, wurde von Grindr etabliert.Grindr hat einen klaren Fokus: Männer sollen unkompliziert Partner für Sex finden. Kern des Ganzen: Profil ausfüllen, Präferenzen angeben. Bei den eigenen Daten besteht auch die Möglichkeit, den eigenen HIV-Status anzugeben. Denn auch wenn sich die Behandlungsmöglichkeiten massiv verbessert haben: AIDS ist nicht weg – und kann selbst in der LGBTQI-Community ist HIV ein Stigma sein, zumindest wollen viele Menschen dort vorher wissen, ob sie sich besonders bewusst beim Verkehr schützen sollten.Grindr als Sicherheitsrisiko für seine Nutzer?Die Firma gibt an, weltweit derzeit jeden Monat etwa 13 Millionen aktive Nutzer zu haben. In der EU sollen es 3,1 Millionen sein, so hat es die Firma im vergangenen Jahr aufgrund einer neuen Verpflichtung im europäischen Recht offenbart. Das Digitale Dienste-Gesetz der EU, der sogenannte Digital Services Act, verpflichtet alle Plattformen dazu, Zahlen zu ihren Nutzern vorzulegen. Abhängig davon, wie groß sie dann sind, müssen sie viele oder sehr viele Pflichten erfüllen. Grindr gilt darunter als kleine Plattform, groß ist ein Anbieter erst ab 45 Millionen EU-Nutzern pro Monat. Erst dann würden ganz besondere Regeln greifen, zu sogenannten „systemischen Risiken“, also Risiken, die sich etwa aus der Nutzerschaft oder technischen Eigenschaften ergeben können. Tiktok etwa mit seinem jugendlichen Zielpublikum, Pornoplattformen mit Nutzeruploadfunktion, aber auch Desinformationsrisiken bei X, ehemals Twitter, Facebook oder Instagram.Doch auch kleinere Anbieter sind wichtig, gerade wenn sie so spezialisiert sind. „Plattformen wie Grindr aus der LGBTIQ*-Community sind in der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken“, sagt Erik Jödicke, Mitglied im Bundesvorstand des LSVD. Sie seien wichtig für ihre Nutzerinnen, „besonders in Regionen und Orten, die keine etablierten Community-Strukturen aufweisen.“ Mit Größe kommt Verantwortung – und das ist einer der Punkte, über den bei Grindr immer wieder gestritten wird: Ist die App am Ende nicht doch eine große Gefahr für ihre Nutzer? In Staaten mit massiver staatlicher Überwachungstätigkeit laufen Nutzer Gefahr, sich unbewusst Verfolgung auszuliefern. In einigen Ländern, etwa der Türkei, ist Grindr gar nicht erst in den App-Stores verfügbar.Wie groß ist die Gefahr, wenn diese nicht in Staaten leben, in denen etwa Homosexualität unter Strafe steht? Oder wo das angestrebt wird? Insbesondere in Staaten auf dem afrikanischen Kontinent gibt es derzeit eine Welle von Gesetzen, die homosexuelle Handlungen mit hohen Strafen bedrohen – in Uganda befand das Verfassungsgericht erst im April, dass das Anti-LGBTQ-Gesetz mit der dortigen Verfassung weitgehend vereinbar wäre. In „schweren Fällen“, etwa wenn dabei sexuell übertragbare Krankheiten einen anderen schädigen, sieht das Gesetz bis hin zur Todesstrafe massive Repression vor.Wie viel Verantwortung trägt also eine Plattform, die für ihre Nutzer zum Alltag gehört – aber eben auch zur Bedrohung werden kann? Derzeit wird viel über Tiktok diskutiert – über die Frage, ob diese App überhaupt verantwortbar ist. In den USA wurde diese Woche gar ein Gesetz erlassen, das den Verkauf Tiktoks durch dessen chinesisch kontrollierten Eigentümer erzwingen soll. Die bei Kindern und Jugendlichen beliebte Plattform gilt als nationales Sicherheitsrisiko. Was in der aktuellen Debatte gerne übersehen wird: ausgerechnet Grindr wanderte 2016 einmal in chinesischen Besitz – und wieder zurück. Auch damals wurde ein Verbot oder eine Zwangsenteignung angedroht. Denn die Daten, die dort hinterlegt sind, sind sicherheitsrelevant.Weitergabe von Daten zum HIV-StatusAuch wenn Grindr-Nutzer oft glauben, dass sie zumindest einigermaßen anonym auf der Plattform wären, weiß der Betreiber automatisch viel mehr über deren Verhalten, Interessen und Sexpartner. Pikante Details, die in einigen Fällen als Kompromat, also als Erpressungsmaterial taugen. Und die Verknüpfung der dort vorliegenden Daten mit weiteren, öffentlich oder bei anderen Plattformen hinterlegten, ist zumindest für staatliche Akteure kein größeres Problem. 2019 erklärten die USA etwa beim Militär Grindr zum offiziellen Sicherheitsrisiko. Das Ergebnis folgte prompt: 2020 wurde Grindr vom damaligen chinesischen Eigentümer zurück in die USA verkauft – und verschwand in Folge 2022 in China aus den App-Stores.Zu dem Zeitpunkt stand Grindr aber längst auch jenseits der US-Debatten in der Kritik. Nicht nur, aber auch für einen angeblich viel zu laxen Umgang mit den Nutzerdaten. Der LSVD spricht von „ernsten Fragen“, die sich stellten. 2021 verhängt die norwegische Datenschutzaufsichtsbehörde Datatilsynet eine Strafe gegen Grindr. 65 Millionen Kronen, umgerechnet 5,5 Millionen Euro, soll die Firma zahlen, ursprünglich verhängte die Aufsichtsbehörde eine noch höhere Strafe von 300 Millionen norwegischen Kronen – 25 Millionen Euro.Der Vorwurf: Grindr gebe viel zu viele Daten über seine Nutzer an die Werbewirtschaft weiter – etwa den Standort mit GPS-Daten. Das sei unzulässig gewesen – denn schon die Nutzung von Grindr führe dazu, dass es sich um besonders sensible und damit schützenswerte Daten im Sinne der Datenschutzgrundverordnung handele. Der Bescheid der Datenschützer hatte vor der für Datenschutzfragen zuständigen Berufungsinstanz zuerst Bestand, Grindr klagt jedoch weiter dagegen. Die Verhandlung fand Mitte März statt, ein Urteilsspruch, wird für die kommenden Wochen erwartet. Grindr hat bereits angekündigt, im Fall der Niederlage weiter dagegen vorgehen zu wollen.Nicht der einzige Ärger, den die Plattform am Hals hat: Im Vereinigten Königreich hat eine Anwaltskanzlei jetzt eine Sammelklage für Grindr-User angestrengt. 670 Kläger hätten sich bereits gefunden, so die Anwaltskanzlei. Der Vorwurf: Grindr habe auch Daten zum HIV-Status mit Dritten geteilt. „Solche Enthüllungen beunruhigen uns zutiefst. Die Weitergabe sensibler Informationen von LGBTIQ*-Personen birgt nach wie vor erhebliche Sicherheitsrisiken und kann zu Stigmatisierung führen“, sagt Erik Jödicke vom LSVD. Für ihn ist klar: „Plattformen wie Grindr tragen eine Verantwortung, insbesondere in Bezug auf die Sicherheit ihrer Nutzer.“ Sie müssten die Daten ihrer Nutzer angemessen schützen, überall – und ganz besonders in Weltregionen, wo die Orientierung zu Verfolgung führe. Sie müsse aber auch sonst informieren, wenn etwa Datenlecks entstehen würden.Profit über PrivatsphäreWie kritisch die Lage ist, darüber gibt es unterschiedliche Aussagen. Grindr betont, dass die Privatsphäre der Nutzer zentral sei. Man habe niemals gezielte Werbung anhand von Profilbildung auf Basis von Daten wie Ethnizität, politischen Ansichten oder sexueller Orientierung zugelassen, schrieb die Firma im Oktober 2023. Anlass war eine Beschwerde der US-Bürgerrechtsorganisation EPIC bei der Aufsichtsbehörde FTC – die wiederum auf einem Rechtsstreit der Firma mit ihrem ehemaligen Datenschutzchef Ron de Jesus gründete. Der warf Grindr vor, ihn gefeuert zu haben, weil er auf Datenschutzverstöße hingewiesen und auf die Behebung dieser gedrängt habe. „Grindr hat Profit über Privatsphäre gestellt“, heißt es in der Klageschrift in diesem Fall. Öffentliche Behauptungen und internes Handeln hätten wenig miteinander zu tun gehabt.Für Erik Jödicke ist es vor dem Hintergrund der Entwicklungen wichtig, dass die Community sich nicht zu sehr auf derartige Angebote verlässt. „Diese Vorfälle verdeutlichen, dass Grindr und ähnliche Apps die Bedeutung traditioneller Community-Strukturen nicht ersetzen können“, sagt er. „Beispielsweise Jugendgruppen, die einen sicheren Raum für LGBTIQ*-Personen schaffen. Solche Strukturen sind unerlässlich, um ein unterstützendes Umfeld für die Community zu gewährleisten und den Datenschutz zu wahren.“
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