TikTok, X und Instagram: Wer hat Angst vor dem großen Anderen?

Kolumne Jonathan Guggenberger erklärt, warum es keine Lösung ist, die Videoplattform Tiktok zu ignorieren
Ausgabe 10/2024
Abschalten hilft nicht: Jonathan Guggenberger empfiehlt, sich gezielt mit digitalen Medien zu beschäftigen
Abschalten hilft nicht: Jonathan Guggenberger empfiehlt, sich gezielt mit digitalen Medien zu beschäftigen

Foto: Imago/Pond5 Images

Ein Tap auf den Bildschirm. Die App mit dem Notenschlüssel als Logo öffnet sich und keine 15 Sekunden später ist klar: Die Welt ist unübersichtlich geworden und unsere Aufmerksamkeitsspanne zu kurz, um sie zu begreifen. Dieser Gedanke ereilt viele, die die Videoplattform Tiktok zum ersten Mal betreten. Für die Generation Z, die zwischen 1997 und 2012 Geborenen, gehört die App des chinesischen Konzerns Bytedance hingegen zur alltäglichen Ausstattung ihrer Lebenswelt. Man merkt: Ein Spalt tut sich auf zwischen den Generationen. Diese Kolumne versucht ihn zu überbrücken. Ihr Autor, Jahrgang 1995, steht zwischen den Generationen.

„Okay, Boomer!“ – Dass unterschiedliche Perspektiven zwischen den Generationen nicht ausgehandelt werden, gibt es nicht erst seit Tiktok. Doch darauf zu verzichten kann gefährliche Folgen haben, denn: Spaltung ist das Ziel vielfältiger Desinformationskampagnen autoritärer Kräfte. Das funktioniert vor allem da, wo Verständnis fehlt. Das sah man zuletzt in der überhitzten Debatte um den auf Tiktok zirkulierenden Letter to the American People, den Osama Bin Laden bereits 2002 veröffentlicht hatte. Aufgeregt und unkritisch griff die deutsche Medienöffentlichkeit erstmalig einen politischen Trend von Tiktok auf. Schnell wurde das Phänomen zur unkontrollierbaren Bedrohung hochgejazzt, die Angst vor Tiktok stieg, dass der Trend vor allem auf der Plattform X zündete, ging unter – ebenso wie politisch tatsächlich relevante Trends auf Tiktok. Zeit also, auszuleuchten, wie es als Raum politischer Aushandlung funktioniert – oder Politik zum Scheitern bringt.

Wer vermitteln will, muss Ängste abbauen. Wer Ängste abbauen will, muss sie ernst nehmen. Doch woher rührt die Angst vor Tiktok? Der Psychoanalytiker Jacques Lacan prägte den Begriff des „großen Anderen“. In den letzten Jahren wuchs insbesondere das Unbehagen am großen Anderen der Daten, den Algorithmen – festgemacht an Konzernen des Westens, an Google und an Meta. Mit Distanz beäugte man sie kritisch, während sie längst formten, wer wir sind, wer wir sein wollen und wie wir uns selbst und andere sehen. Tiktok fügt dieser Angst eine weitere hinzu: Die vor dem kulturellen Anderen – China, das auch ökonomisch zum großen Anderen geworden ist.

Diese Angst vermutet berechtigterweise, dass die eigenen Daten den Interessen der autoritären chinesischen Regierung zum Opfer fallen könnten. Es ändert wenig, wenn Shou Zi Chew, CEO von Tiktok, vor dem US-Kongress beteuert: „Wir haben nie Daten für die chinesische Regierung geliefert.“ Tiktok deshalb zu ignorieren, wäre fahrlässig. Wer verstehen will, wie sich politische Diskurse formieren, sich Meinungen und Wahlverhalten entwickeln und warum Parteien, Gruppen und Agitatoren, die auf Krisen der Demokratie mit Verschwörungsglauben und Faschismus antworten, im Höhenflug sind, muss sich Tiktok und die Angst davor zusammen ansehen.

Das hat sich diese Kolumne zur Aufgabe gemacht. Konkret heißt das: Trends und Challenges, ästhetische Codes und populärkulturelle Mythen auf Tiktok als politische Taktgeber zu beobachten – und das „as wild as it gets“: Ob dschihadistisches Nageldesign, Taylor-Swift-Verschwörungen oder russische Faschisten, die zu K-Pop tanzen. Wer hat Angst vor dem großen Anderen? Diese Frage zum Auftakt wird mich als Bande begleiten, über die das jeweils tagesaktuelle Phänomen gespielt wird, um Tiktok-Ängste aufzuklären. Und falls es Sie beruhigt: Nicht jeder muss auf Tiktok sein, um zu verstehen, welche Einflusssphäre dort entsteht. In Zukunft reicht es, diese Kolumne zu lesen.

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