Abschalten nicht vergessen: Wie Tiktok und Tinder uns in Suchtkranke verwandeln
Rabbit-Hole-Effekt Werden Jugendliche bei Tiktok in Welten hineingezogen, die abhängig machen? Die EU-Kommission glaubt das und hat ein Verfahren eröffnet. In Kalifornien läuft eine ähnliche Sammelklage gegen Dating-Apps. Dabei ließe sich das Problem lösen
Das würden Ihnen sicherlich niemals passieren: Profil nach links gewischt, nach rechts gewischt, dann noch ein kurzes, erheiterndes Video … Oh, da ploppt die Notification auf: Schnell die App wechseln, auch in der anderen App passieren gerade furchtbar wichtige, spannende Dinge und die will ich doch auf gar keinen Fall verpassen! Was, ein Sonderangebot auf dem Marktplatz X? Aber da war doch noch das Profil von dem hübschen Kerl. Was nur soll ich zuerst öffnen?
Die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ ist kein neues Konzept. Und doch fußt ein wesentlicher Teil der digitalen Wirtschaft genau auf diesem Prinzip: Aufmerksamkeit gewinnen, die Verweildauer erhöhen, Emotionen stimulieren und die Kontrolle des Nutzers simulieren. Digitalunternehmen verdienen
s Nutzers simulieren. Digitalunternehmen verdienen in der Regel Geld mit Abomodellen, Werbung und Daten. Was sie dafür brauchen: unsere Aufmerksamkeit. Diese bekommen sie dadurch, dass sie uns möglichst tief in den Bann ziehen. Aber da gibt es ein Problem.Ginge es nach diesen Geschäftsmodellen, würden wir den ganzen Tag in ihren kleinen, künstlichen Welten abhängen und mal hier, mal dort lang swipen. Hier ein Herzchen, dort eine Interaktion mit anderen Nutzern. Vielleicht auch mal etwas kaufen, bei Temu, Alibaba, Amazon. Ein Abo abschließen – und das möglichst niemals kündigen wollen. Oder zumindest noch mehr Daten zur Verfügung stellen: Jeder Wisch, jeder Klick, jede Interaktion, jedes Nichtweiterklicken ermöglicht neue Datenpunkte. Das Ziel vieler Plattformen: Damit kann Werbung noch zielgerichteter an uns und angeblich ähnliche Nutzer ausgespielt werden. Und dafür, möglichst wenig falsche Adressaten zu erreichen, zahlen die Werbekunden an die Internetunternehmen. Damit das funktioniert, bedienen sich die Firmen einiger harmlos wirkender Tricks.Produktdesigner wollen, dass wir ihre App morgens zuerst öffnenSie optimieren, um möglichst viel unserer wertvollen Aufmerksamkeit zu erheischen. Zwei Dinge stehen im Fokus: Unsere Aufmerksamkeit überhaupt erst einmal zu gewinnen ist das erste. Dazu gehört zum einen die Gestaltung von Oberflächen, das „Look & Feel“. Hier wird bereits aussortiert, wer Zielgruppe ist: Fresh wie Teens, verspielt wie Katzeneltern, verliebenswert wie Best-Ager-Singles. Je größer die Nutzerschar, umso schwieriger wird es, ihr ein heimeliges Gefühl des Dazugehörens in dieser oder jener App zu vermitteln – also die App zu werden, die die letzte offene vor dem Einschlafen ist und die erste nach dem Aufstehen. Diesen Platz in unserer Aufmerksamkeit wollen die Produktdesigner am liebsten erzielen. Doch hübsch aussehen reicht dafür nicht: Es muss auch etwas geboten werden. Am besten genau das, was wir suchen, damit wir dort noch mehr davon suchen. Doch wie funktioniert das?Wie praktisch, dass es Algorithmen gibt: Automatisierte Auswertungen, was uns und vergleichbare Menschen eigentlich so interessieren könnte. Sie etwa lesen gerade diesen Text. Sie sind schon ein paar Minuten dabei. Sie mögen also Texte darüber, wie wir Menschen uns in Apps verhalten und wie wir dabei manipuliert werden. Wäre hier ein Algorithmus am Werk, hätten sie und andere Nutzer wahrscheinlich mehrere unterschiedliche Darstellungen gesehen. Vielleicht sogar unterschiedlichen Text. Und wenn Sie weiterlesen, könnten Sie endgültig in die Falle gehen.Denn dann könnte der sogenannte Rabbit-Hole-Effekt nun eintreten: Ihr Interesse wird mit neuen, weiteren Inhalten verstärkt. Immer mehr vom gleichen, immer interessanter, immer krasser. Bis sie am Ende das Gefühl haben, dass sie ohne nicht mehr auskommen: Sie entwickeln Abhängigkeiten. Und die können es in sich haben.Was für Onlinespiele längst relativ gut erforscht ist, ist bei der Betrachtung zu Plattformen und Nicht-Spiele-Apps noch eher am Anfang: Wie genau Nutzer manipuliert und süchtig gemacht werden. Klar ist: Es geht um Aktion und Belohnung – wir interagieren und bekommen dafür einen neuen Reiz. Und dieser neue Reiz ist möglichst ein Anreiz, ein kleiner Kick für uns, der nicht nur mögliche Partner, sondern vor allem unsere Interessen matcht. Wir suchen Bestätigung und Neues, das ist uns Menschen evolutionär mitgegeben. Die Gefahren, die auch in anscheinend harmlosen Apps damit verbunden sein könnten, werden von einigen Wissenschaftlern als groß eingeschätzt – wie groß, ist bei den kleinen Begleitern auf dem Telefon aber anhand von Realdaten wenig erforscht. Doch das könnte sich jetzt ändern.Denn am Valentinstag 2024 wurde in Nordkalifornien eine ganz besondere Beziehung begründet: Eine gerichtliche. Und zwar zwischen Match (der Firma hinter Tinder), zwei weiteren Dating-Plattformen und einer Gruppe Kläger, die eine Sammelklage gegen die Betreiberfirma eingereicht hat. Lang ist die Liste der Gesetze, gegen die Match verstoßen haben soll. Der Kernvorwurf aber lautet: Die Firma macht die Nutzer mit voller Absicht süchtig nach ihren Anwendungen. Das verstoße gegen insgesamt elf Gesetze, die im bevölkerungsreichsten Bundesstaat der USA gelten, machen die Klagevertreter geltend. Und das ist nicht der einzige Ort, wo nun langsam gegen die perfiden Techniken vorgegangen wird.Zwar lässt sich die Situation in den USA und insbesondere im Sammelklagestaat Kalifornien nicht direkt mit der in Europa vergleichen. Auch deshalb, weil einige Methoden und Datenauswertungen in Europa lange verboten sind. Doch auch hier gab es Anfang dieser Woche eine bemerkenswerte Entwicklung: Die EU-Kommission hat die TikTok-Mutterfirma ByteDance wegen ähnlicher Vorwürfe ins Visier genommen. Hier geht es unter anderem um die Frage: Werden Nutzer, insbesondere Minderjährige, absichtlich oder zumindest vom Betreiber geduldetermaßen algorithmisch in Risiken wie Abhängigkeiten, Radikalisierung oder in Inhaltswelten hineingezogen, die schlecht für sie sind?Das will die EU-Kommission nun ganz genau wissen. Hintergrund des Verfahrens der Generaldirektion Connect gegen TikTok ist der sogenannte Digital Services Act (DSA). Seit September gilt der für die größten Anbieter digitaler Dienste, also jene mit mehr als 45 Millionen Nutzern pro Monat in der EU. Darunter sind neben Instagram, dem ehemaligen Twitter das jetzt X heißt, Facebook, Instagram, Google und die meisten anderen großen Anbieter, auch Marktplätze wie Amazon. Sie alle werden jetzt von der EU-Kommission beäugt – und bei Verstößen können sie von ihr belangt werden. Nicht dabei aber: Telegram und Tinder. Während sich Unternehmen sonst gerne mit besonders hohen Nutzerzahlen schmücken, war es einigen nach der Einführung des DSA sehr wichtig, doch keine besonders große Plattform zu sein. Und das hat Gründe, wie sich jetzt an TikTok zeigt.Denn der DSA schreibt für fast alle Angebote im Netz einige Regeln vor. Dazu gehört etwa so etwas wie eine Meldemöglichkeit für Nutzerinhalte, auf die die Betreiber reagieren müssen. Algorithmisch sortierte Inhalte müssen auch standardisiert einmal ohne Algorithmen angeboten werden. Ob das Tinder-Nutzer glücklich macht? Unklar, aber bei der Hotelsuche, bei Online-Kleinanzeigen, Preissuchmaschinen und in Sozialen Netzwerken ist die um individuelle Nutzerprofile bereinigte, algorithmenfreie Version sicherlich einen Blick wert. Doch das sind bei Weitem nicht alle Regeln.Wann Tiktok gesperrt werden könnte in EuropaDie ganz besonders großen Anbieter müssen selbst prüfen, ob von ihrer Plattform sogenannte „systemische Risiken“ ausgehen. Das kann so etwas wie Desinformation sein, aber auch gesundheitliche Risiken. Ein Beispiel dafür könnten Magersuchtmodels bei Instagram oder Hot-Chili-Challenges bei TikTok sein. Aber auch Radikalisierungsinhalte, etwa aus dem terroristischen Spektrum, können hier eine Rolle spielen. Und auch gegen Desinformationskampagnen, etwa von staatlich gelenkten Akteuren aus dem Nicht-EU-Ausland, müssen die Plattformen etwas tun. Die EU schreibt den Plattformen dabei aber nicht genau vor, was sie zu tun haben. Vielmehr verpflichtet sie die Anbieter, die Risiken zu identifizieren und darauf angemessen zu reagieren. Und wenn sie es nicht machen?Wenn die EU-Kommission im Laufe des Verfahrens zu dem Schluss kommt, dass TikTok sich wirklich nicht kümmert, könnte sie Strafen in Milliardenhöhe verhängen, Maßnahmen anordnen und im krassesten Fall sogar das Angebot sperren lassen. Allerdings werden sowohl das Verfahren in Kalifornien als auch die in Europa (auch gegen Elon Musks X läuft bereits ein DSA-Verfahren) noch lange dauern. Da kann EU-Digitalkommissar Thierry Breton im Zusammenhang mit dem DSA sooft vom „Ende des Wilden Westens im Internet“ sprechen, wie er will. Denn so einfach wird man das Heischen nach Aufmerksamkeit nicht abstellen können.Auch dieser Text ist leicht manipulierend geschrieben. Jeder Absatz endet mit einem kleinen Versuch, Sie in den nächsten hineinzuziehen. Haben Sie es gemerkt?
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