Ausweichen verboten? Über den Allzweckvorwurf des „Whataboutism“

Streitkultur A will über die Ukraine sprechen, B kommt mit Irak: Eine Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des „Whataboutism“
Ausgabe 23/2022
Ausweichen verboten? Über den Allzweckvorwurf des „Whataboutism“

Illustration: Christoph Vieweg für der Freitag

Alle politischen Debatten sind peinlich, und ich sage auch gleich, warum. Leute, die die Welt unterschiedlich sehen, begegnen einander mit Argumenten. Argumentieren bedeutet, mittels einer Begründung zu einer Einschätzung zu kommen. Die Einschätzungen aber stehen, wenn von Politik die Rede ist, längst fest; es geht nur noch darum, sie sinnvoll erscheinen zu lassen. Dazu muss man paradoxerweise so tun, als drängten die Argumente von selbst zu den jeweils vertretenen Einschätzungen. Als seien also die Begründungen Gründe. Als machten die Urteile das Weltbild und nicht umgekehrt. Im Politischen ist der Standpunkt alles und die Erkenntnis so gut wie gar nichts – und trotzdem müssen die Standpunkte fortwährend als Erkenntnisse ausgegeben werden. Andernfalls würde es ja völlig reichen, wenn sich politische Gegner einfach ihre Losungen vortrügen und dann grußlos den Raum verließen.

Nun liegt es aber in der Natur der Sache, dass sich alles erkennen lässt, auch das Politische. Weswegen politisches Denken und Denken über Politik nicht vom selben Ufer sind. Gut dran zu sein scheint da, wer wie der Koloss von Rhodos auf beiden Seiten des Flusses stehen kann, einen gefestigten Standpunkt hat und ihn trotzdem immer wieder auf Konsistenz hin abklopft. Man muss in der Lage sein, sich selbst beim Denken zuzusehen. Die Fähigkeit, sich von den eigenen politischen Zwecken nicht vollends regieren zu lassen, dient diesen Zwecken letztlich.

Folglich ist das Beharren auf dem kategorischen Imperativ kein Spleen der reinen Vernunft. Es stärkt die Argumentation, die verloren hat, sobald sie doppelter Standards überführt wird. Man sollte Kritik nie mit Waffen führen, die der Gegner gegen einen selbst kehren kann. Wer da nicht am Anfang vorsorgt, muss es hinten raus regeln. Und das geht dann nur selten noch gut aus.

Es gibt Feuerlöscher-Argumente, solche, heißt das, die nie offensiv verwendet werden. Die immer erst zum Einsatz kommen, wenn jemand Mist gebaut hat. Zu dieser Sorte gehört der Vorwurf des Whataboutism. Das Wort erfreut sich zur Stunde einiger Popularität; es gibt ja auch viel zu löschen, wenn zum Beispiel Kostümlinke, die den Überfall der USA auf den Irak nach wie vor für richtig halten, am gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine ihren lange verschütteten Antiimperialismus wiederentdecken.

Aber das Muster ist nicht neu. A kritisiert den Umstand X. Da wendet B ein: Aber was ist mit Y? Konsequenterweise müsste A jetzt seine Kritik auf Y ausdehnen, aber das will A nicht, weil Y in seinem politischen Lager liegt und die politische Schlagkraft seiner Kritik damit verlorenginge. An diesem Punkt kommt der Vorwurf des Whataboutismus ins Spiel. Er soll sagen, dass Person B den Umstand Y nur deshalb ins Spiel brachte, um von der Kritik an X abzulenken, um die es A in diesem Moment ging. Der Verdacht mag zutreffen oder nicht. In jedem Fall ist der Vorwurf des Whataboutismus projektiv. Er wird ausschließlich von Leuten in Anschlag gebracht, die längst selbst mit zweierlei Maß messen und dabei nicht gestört werden wollen.

Auf den Verweis, dass ihre Empörung nur fallweise ist, antworten sie mit dem Zauberwort, das demjenigen, der ihnen gerade nachweist, dass sie den Balken im Auge haben, genau diesen Vorwurf zurückgibt. Wer auf den Ausschlag nach nur einer Seite hinweist, tue das nicht, um die Mitte zu halten, sondern weil er seinerseits den Ausschlag nach nur einer Seite wolle, der anderen nämlich. Projektiv daran ist, dass man seinen Kritikern eben die Korruptheit vorwirft, der man sich selbst immer schon hingibt.

Mit einem Wort: Der Vorwurf des Whataboutismus ist selbst ein Whataboutismus. In ihm schwingt, da der eigene Ruf bereits ruiniert ist, das freche „Wir sind doch alle bloß Schweine“ mit. Wo alles immer nur einseitig sein kann, gibt es keine besseren oder schlechteren Antworten mehr, nur noch die richtige Gesinnung und die Sturheit beim Durchsetzen derselben. Der Whataboutismus-Vorwurf attackiert somit mehr als bloß den politischen Gegner. Er zieht auch zu Feld gegen jedes Denken in Zusammenhängen.

Felix Bartels ist Literaturwissenschaftler und politischer Publizist in Berlin

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