Filmemacher Pietro Marcello: „Ich hatte immer Glück“
Interview Pietro Marcello dreht Filme für ganz Europa. Sein Film „Die Purpursegel“ basiert auf einem russischen Märchen und auch hierin setzt der Regisseur auf Gemeinsinn. Ein Gespräch mit einem, der sich mehr als Archivar denn als Filmemacher sieht
Nach der Jack-London-Verfilmung Martin Eden widmet sich der italienische Regisseur Pietro Marcello in Die Purpursegel einem russischen Märchen, das er ins Frankreich der Zwischenkriegsjahre verlegt und ordentlich gegen den Strich bürstet. Der Film erzählt ebenso poetisch wie unkonventionell vom innigen Verhältnis zwischen einem verwitweten Kriegsheimkehrer und seiner Tochter Juliette und davon, wie diese zu einer selbstbewussten jungen Frau heranwächst. Thomas Abeltshauser sprach mit Pietro Marcello über Rollenklischees, Gemeinschaftssinn und die Verantwortung als Filmemacher.
der Freitag: Herr Marcello, die romantische Märchennovelle des russischen Schriftstellers Alexander Grin scheint auf den ersten Blick eine für Sie ungewöhnliche Wahl zu sei
Blick eine für Sie ungewöhnliche Wahl zu sein. Wie kamen Sie auf den Stoff?Pietro Marcello: Das war nach meinem letzten Film Martin Eden. Ich war ziemlich erschöpft und sah eigentlich keine Notwendigkeit, mich gleich wieder in die Arbeit zu stürzen. Aus familiären Gründen verbrachte ich zwei Jahre in Frankreich, und währenddessen kam mir das Buch von Alexander Grin in die Hände. Ich liebe russische Literatur, und ich war auch gleich von dieser Novelle begeistert. Vor allem die Vater-Tochter-Geschichte interessierte mich daran.Bereits „Martin Eden“ basierte lose auf einer Vorlage, dem Roman von Jack London.Und ich hatte keineswegs im Sinn, jetzt die Adaption dieses weit ausholenden Romans zu überbieten. Ich wollte einen Film des Übergangs machen, einen Film, der ein Zwischenreich erkundet. Er entstand während der Pandemie, einer Zeit großer Einschränkungen, der Unfreiheit, im Grunde einer Mangelökonomie. Ich meine das nicht im engen wirtschaftlichen Sinne, die Bedingungen waren allgemein schwierig in dieser Ausnahmesituation. So habe ich auch den Film gedreht, als wäre es ein Dokumentarfilm. Ich hatte nur 15 Monate von der Entwicklung des Drehbuchs bis zum Ende des Drehs.Eine Phase des Übergangs thematisiert auch der Film, dessen Handlung Sie in Frankreich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ansiedeln. Alexander Grins Erzählung ist da weniger konkret …Ich habe die Geschichte nach Frankreich verlegt, weil ich zu diesem Zeitpunkt dort lebte. Sie hätte aber ebenso gut in Kalabrien oder in Schlesien oder Australien spielen können, weil die Geschichte universell ist. Mich interessieren solche allgemeingültigen, menschlichen Geschichten. Martin Eden ist ein amerikanischer Roman, den ich nach Italien verlegt habe. Er hätte aber auch in Lübeck gedreht werden können. Die Novelle von Alexander Grin ist eine simple Geschichte, die von existenziellen Themen handelt, die für mich eine Verbindung zu einem anderen meiner Filme haben, La bocca del lupo. In beiden Filmen geht es um Menschen, die sich gemeinsam gegen böse Kräfte zur Wehr setzen. Nur in der Gemeinschaft ist ein Leben, ein Überleben möglich. Ich bin überzeugt davon, dass wir nur mit Gemeinsinn weiterkommen. Der Individualismus führt uns in eine Sackgasse.Im Zentrum steht Juliette, eine junge Frau, die bei Ihnen moderner und emanzipierter ist als in Grins Märchen …Das Entscheidende für mich war, dass sie nach dem Verlust des Vaters nicht einfach von einem anderen Mann gerettet wird. Sie ist sehr viel stärker und eigenständiger als im Buch. In der Novelle erscheint am Ende der Märchenprinz als Erlöser, ein völlig überholtes Konzept. Frauen brauchen keinen Märchenprinzen, und Juliette, wie ich sie mir vorstellte, ganz sicher nicht. Also habe ich diesen Mythos zerstört und auch die männliche Figur neu definiert. Bei mir ist Jean ein Bruchpilot, als er dort ankommt. Ich sehe ihn als die Personifizierung des modernen Mannes. Er weiß nicht, wo und wofür er steht, wie er sich verhalten soll, er ist verloren.Eingebetteter MedieninhaltIhre bisherigen Filme waren in Ihrer italienischen Heimat angesiedelt, handelten vom Wandel und von den Umwälzungen des Landes. „Die Purpursegel“ ist nun Ihr erster französischer Film. Eine bewusste Abkehr?Das ist den Umständen geschuldet. Ich habe eine im Grunde europäische Sichtweise. Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, da gibt es für mich keine klare Grenze. Wir sind Mitglieder derselben europäischen Familie. Ich kann mich mir selbst in meiner Identität, in meiner gesamten Kultur und Bildung überhaupt nicht vorstellen ohne Deutschland, ohne Frankreich. Das italienische Kino hat sich stets im engen Austausch mit anderen Ländern weiterentwickelt, insbesondere mit Frankreich. Meine Bildung ist zum Beispiel ohne Bach undenkbar.Ihr Film feierte im vergangenen Jahr in Cannes Weltpremiere. Wie wurde er in Italien aufgenommen? Wie schwierig ist es heute, als Filmemacher im Kino ein Publikum zu finden?Mir ist sehr bewusst, dass ich in einer privilegierten Situation bin. Ich habe immer das gemacht, was ich wollte. Ich habe als Dokumentarfilmer angefangen, weil das mit begrenzten Mitteln leichter ist, im Grunde hat mir nie jemand reingeredet. Sollte der Fall eintreten, dass ich als Ware des Systems missbraucht werde, dann werde ich dieses Gewerbe verlassen. Was mich wirklich interessiert, das sind die jungen Menschen, die nachwachsenden Generationen. Ich würde mich dann dem Unterrichten von Kindern widmen. Ich halte Erziehung für die edelste Aufgabe. Das entspringt meinem tiefen Verantwortungsgefühl.Um ihnen Film als Medium zu vermitteln? Oder was schwebt Ihnen vor?Nein, ethisch-moralische Erziehung. Ich stelle mir beständig Fragen hinsichtlich unserer moralischen Verantwortung für die Zukunft junger Menschen. Mir ist viel Gutes geschehen, ich hatte immer Glück, musste nie Kompromisse eingehen. Als Filmemacher habe ich eine gewisse Autarkie erreicht, weil ich am liebsten mit kleinem Budget arbeite. Derzeit sitze ich an einem Film über das Thema Krieg, von Kain und Abel bis zur Ukraine. Und ich bediene mich dabei ganz aus historischem Material, es wird ein Archivfilm. Ich halte mich weniger für einen Regisseur als für einen Archivar. Das Fiktionale, die Spielfilme sind nur ein Teil meines Filmschaffens.Placeholder infobox-2Ist dieser Dokumentarfilm motiviert durch die derzeitige Weltlage, oder woher kam das Interesse an dem Stoff?Es entstand aus meinem Verantwortungsgefühl gegenüber der jungen Generation heraus. Was wir heute erleben, ist der Krieg als Medienereignis und als Ware, wie es schon Adorno gesagt hat. Der Krieg ist ein filmisches Spektakel, inszeniert von den Kriegstreibern. In der Kriegsberichterstattung herrscht eine Pornografie des Bildes. Ich versuche mit dem Film einen Schritt zurückzutreten, mich zu besinnen auf das, was war, um dann in die Zukunft zu schauen.Auch in „Die Purpursegel“ haben Sie dokumentarische Aufnahmen eingefügt. Wie finden Sie dabei die Balance?Das ergibt sich einfach. Das Problem besteht auf einer anderen Ebene: Wie produziert man, wie geht man mit dem Budget um? Und wie kann man das Kino möglichst wenig geschwätzig und sensationsgierig machen? Das ist das Problem: Sobald das große Geld ins Spiel kommt, wird alles zu einem Manipulationsspiel.Trotzdem gibt es verschiedene Ebenen in Ihrem Film, nicht nur dokumentarisch und fiktional, sondern auch märchenhafte und musikalische Elemente. Wie gelingt da der richtige Tonfall?Ich glaube, das ist eine Art alchemistischer Prozess. Ich füge Elemente assoziativ aneinander. Und verlasse mich da nicht auf das Drehbuch, denn ich weiß, dass Änderungen immer notwendig sind.Sie erzählen dabei Zeit nicht streng chronologisch, sondern eher elliptisch und sprunghaft …Vieles entsteht erst im Schnitt. Ich mag Filme, die nicht perfekt sind. Wenn es zu glatt ist, langweilt es mich. Ich komme vom Dokumentarischen und suche leidenschaftlich gern nach dem Unerwarteten, auch am Set eines Spielfilms. Ich habe keine Komfortzone, hatte ich nie. Ohne es mir ausgesucht zu haben, bin ich auf diese Art des Filmemachens karmisch festgelegt.Sie drehen dabei mit analogem Filmmaterial. Worin liegt für Sie der Reiz?Meine Herangehensweise hat sich seit meinem ersten Filmkaum geändert. Ich habe immer auf echtem Film gedreht, nie digital. Zu Beginn kaufte ich abgelaufenes Filmmaterial zu günstigen Preisen, weil ich mir nichts anderes leisten konnte. Inzwischen kann ich mir vollwertiges Zelluloid leisten. Aber beim Analogen werde ich bleiben.Placeholder infobox-1