Saim Sadiqs „Joyland“: Ein kleines Kinowunder aus Lahore
Pakistan Der junge Haider schmeißt in seinem patriarchalen Clan den Haushalt – bis er an einen Job gelangt: als Tänzer in einem queeren Kabarett. „Joyland“ ist das atemberaubende Spielfilmdebüt des pakistanischen Regisseurs Saim Sadiq
In „Joyland“ hinterfragen fast alle die eigenen Sehnsüchte und Wünsche
Foto: Filmperlen
In der U-Bahn von Lahore hat Biba (Alina Khan) auf einer Sitzbank Platz genommen. Eine Frau mit Kopftuch neben ihr erkennt, dass Biba trans ist, und beginnt auf sie einzureden: „Sie können hier nicht sitzen, das ist die Frauensektion.“ Sie will Biba zu den Männern verweisen. Als sie stoisch sitzen bleibt, wird die Frau lauter, beginnt Biba zu beschimpfen. Haider (Ali Junejo), der die Szene aus der Distanz beobachtet hat, tritt schließlich heran und setzt sich demonstrativ zwischen die beiden. Abrupt endet der direkte verbale Angriff; lediglich ein Getuschel unter den anderen Fahrgästen setzt ein, die sich darüber echauffieren, wie vulgär sich heutzutage Leute in der Öffentlichkeit benähmen. Biba grinst. Sie kennt solche Anfeindungen, sie
ie sind für sie Teil des alltäglichen Kampfes in ihrer pakistanischen Heimat, wo sie als Mensch zweiter Klasse behandelt wird und gelernt hat, sich immer wieder zu behaupten. Für den jungen Haider ist dieser Moment dagegen das erste Mal, dass er deutlich Position bezieht.Zu Beginn von Joyland ist seine Rolle dagegen gar nicht so klar. In der Großfamilie, wo er unter einem weißen Bettlaken wie ein Gespenst verkleidet mit den Kindern Verstecken und Fangen spielt, geht er fast unter. Später fährt er die hochschwangere Nucchi (Sarwat Gilani) auf dem Motorrad ins Krankenhaus, nach drei Töchtern haben die Ärzte einen Sohn prognostiziert. Doch der erhoffte männliche Nachfolger bleibt aus. Und erst als dort sein älterer Bruder Saleem (Soheil Sameer) auftaucht und Haider anherrscht, warum er ihm nicht vor der Geburt Bescheid gegeben habe, wird deutlich, dass es sich bei Nucchi und den Töchtern nicht um seine Frau und seine Kinder handelt.Mit im beengten Haus lebt auch der alte Witwer Rana (Salmaan Peerzada), Vater von Haider und Saleem und von allen Abba genannt. Er sitzt im Rollstuhl, seine schwache Gesundheit hält ihn jedoch nicht im Geringsten davon ab, als autoritäres Familienoberhaupt Befehle zu erteilen und den in seinen Augen nichtsnutzigen Sohn permanent zurechtzuweisen.Denn Haider entspricht so gar nicht dem gängigen pakistanischen Männlichkeitsbild und damit den Erwartungen seines Vaters. Im Gegensatz zu seinem Bruder Saleem ist Haider arbeits- und kinderlos, kümmert sich stattdessen um die kleinen Nichten und schmeißt den Haushalt, scheut aber davor zurück, eine Ziege zu schächten. Für den Broterwerb ist seine Frau Mumtaz (Rasti Farooq) zuständig, sie geht in einem Kosmetikstudio arbeiten und genießt sichtlich die Vorzüge ihrer Berufstätigkeit.Als sich für Haider durch einen Freund vermittelt dann doch die Chance zu einem Job ergibt, traut er sich nicht, der Familie darüber die ganze Wahrheit zu sagen. Er wird als Backgroundtänzer in einem Erotik-Kabarett angeheuert, gibt aber zu Hause zunächst vor, zum Theatermanager ernannt worden zu sein. Damit kommt er, zumindest eine Weile, durch.Der Job führt dazu, dass er nun viel Zeit mit Biba und den Jungs aus dem Theater verbringt. Sie proben Choreografien und Haider freundet sich mehr und mehr mit der resoluten Performerin an, vorsichtig und kompliziert. Wie daraus ganz langsam ein Begehren und schließlich Liebe erwächst und Haider zugleich in kleinen Schritten selbstbewusster und selbstbestimmter wird, davon erzählt Joyland sehr berührend und subtil. Gleichzeitig unterschlägt der Film nicht, dass Heiders „Emanzipation“ auf Kosten von Mumtaz geht, die ihrerseits von der Familie gedrängt wird, ihren Job aufzugeben, um an Haiders Stelle nun Haushalt und Kinderbetreuung zu übernehmen. Und dadurch in eine Sinnkrise schlittert.Der eng behauste Clan wird so zum Spiegelbild einer ganzen Gesellschaft, die noch immer stark von patriarchalen Strukturen geprägt ist. Die Befreiung aus Moralvorstellungen führt schließlich dazu, dass fast alle ihre eigenen Sehnsüchte und Wünsche hinterfragen. „Joyland“ heißt der Vergnügungspark unweit der beengten Wohnung, von dem im Moloch aus Straßenschluchten wenig mehr als ein Teil des Riesenrades und die Gipfel der Achterbahn zu sehen ist. Für Menschen wie Haider, Biba und Mumtaz wird der Name zur Utopie.Das Regiedebüt des 32-jährigen Filmemachers Saim Sadiq war im Mai vergangenen Jahres tatsächlich der erste Film aus Pakistan, der ins offizielle Programm des Filmfestivals in Cannes eingeladen wurde. Am Ende wurde er dort mit dem Jurypreis der Sektion Un Certain Regard ausgezeichnet und erhielt zugleich als bester LGBTQ-Film die Queer Palm. Später schaffte der Film es sogar auf die Shortlist für den Auslands-Oscar, auch das eine Premiere. Ein halbes Jahr darauf folgte dann die herbe Enttäuschung: Kurz vor Kinostart in Pakistan wurde die im August 2022 erteilte Genehmigung zurückgezogen. Auf Druck radikalreligiöser Gruppen verbot die Regierung den Film wegen „anstößiger Inhalte“. Sowohl eine Transfrau als vielschichtige Hauptfigur als auch der Kuss mit einem Mann galten als moralzersetzend. Die anschließenden Proteste aus progressiveren Teilen der Bevölkerung sorgten zwar für ein teilweises Einlenken, doch kaum ein Kino im Land zeigte Joyland; in Lahore ist eine Aufführung bis heute untersagt.Die verfahrene Situation spiegelt damit wider, was der Film an Konflikten in der pakistanischen Gesellschaft thematisiert. Seit 2018 ist es dort zwar gesetzlich möglich, das eigene Geschlecht selbst zu bestimmen. Doch von einem diskriminierungsfreien Leben sind queere und insbesondere Transmenschen in Pakistan noch weit entfernt. Vielen Transfrauen bleiben zum Überleben bis heute oft nur Prostitution und Betteln. Oder, wer Glück und Talent hat, ein Auskommen als Erotiktänzerin.Regisseur Saim Sadiq, der 1991 in Lahore geboren und dort aufgewachsen ist, studierte später an der Columbia University in New York Filmregie und Drehbuch. Sein Abschlussfilm Darling über Transtänzerinnen in Lahore, in dem Alina Khan bereits mitwirkte, wurde beim Filmfest Venedig 2019 als bester Kurzfilm der Orizzonti-Sektion ausgezeichnet. Sadiqs Langfilmdebüt nun, inspiriert von der eigenen Familie und ihren Dynamiken, ist eher leise kämpferisch. Er kritisiert die religiös-moralischen Machtstrukturen seiner Heimat, indem er Lebensformen und Begehren sichtbar macht, die von den Mullahs als „antipakistanisch“ verteufelt oder schlicht negiert werden. Die Figur der Biba ist kein Opfer, sie lässt sich nicht unterkriegen, auch wenn sie dafür tätlich angegriffen wird. Mit starken Bildern voll rauer Eleganz und einer durchweg tollen Besetzung gelingt ihm ein kleines Kinowunder, das Rollenerwartungen infrage stellt und die Figuren nicht zu Funktionsträgern einer Botschaft macht, sondern ihnen viel Freiraum für ihre Suche nach dem eigenen Selbstverständnis lässt. Auch auf die Gefahr hin, damit die Welt auf den Kopf zu stellen.Eingebetteter MedieninhaltPlaceholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.