Sex sells

Sexsucht. Ein paar Anmerkungen, die auf beliebte Übertreibungen bei Themen sexuellen Inhalts hinweisen sollen. Exemplarisch dargestellt am Thema Sexsucht.

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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) will Ende Mai die sogenannte internationale Klassifikation von Erkrankungen (ICD-11) verabschieden, in der sogenannte zwanghafte sexuelle Störungen als Impulskontrollstörung aufgenommen sind.

Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen.

„Für die Betroffenen ist es dann einfacher, Therapeuten zu finden“, erklärt Dr. med. Heike Melzer. Und es sei einfacher, das Thema wissenschaftlich zu erforschen.

Unter der Überschrift »Neu bei uns: Frau Dr. med. Heike Melzer« stellte Carsten Börger die Psychotherapeutin am 2. Dezember 2016 im PSYCHOLOGIE ONLINE-MAGAZIN vor. Er schreibt u. a.: „Eine ihrer besonderen Interessen gilt dem Bereich der Sexsucht, dem sie sich aktuell verstärkt widmet. Insbesondere die neuen Medien haben neben dem Kommunikations- auch das Sexualverhalten der Menschen stark verändert, allein über die Verlängerung der Verweildauer der Menschen mit Smartphone auf Toiletten ließe sich jede Menge erzählen, so eine von ihren Einfällen. So gehört zur Sexsucht auch die Internet-Pornosucht in ihren vielfältigen und nicht selten bizarren Ausprägungen.“

Juliane Löffler schrieb unter dem 02.01.2017 hier in dieser dFC das Blog „Oh ja!“, in dessen Verlauf es zu einer heftigen Diskussion zwischen dem dFC-Mitglied Moorleiche und mir (ff) kam.

Moorleiche nämlich führte die Diskussion weg von der Ursprungsfigur, der ehemaligen Dr. Sommer alias Jutta Stiehler, hin zur »renommierten Sexualtherapeutin Heike Melzer, die bisweilen auch in der „Bravo“ schreibt«.

Moorleiches Intro: »Für sie stellt vor allem Sex- und Pornosucht ein zunehmendes Problem der Jugend und jungen Erwachsenen dar.«

„Was die Betrachtung von Gang-Bang und Deep-Throat-Videos vor dem ersten Kuss mit sich bringen, zeigen eigene Erfahrungen in meiner Praxis, wo die Schere immer weiter auseinandergeht. Auf der einen Seite finden sich eine Vielzahl an „Unberührten“, die trotz einschlägiger Interneterfahrung überhaupt nicht mehr in Kontakt mit realen Partner kommen. Auf der anderen Seite finden sich viele junge Erwachsene mit ausgeprägt zwanghaft bis süchtigen Zügen, stark risikobehaftetem Verhalten und einer teilweise schier unüberschaubar hohen Anzahl an Sexualpartnern…“

...

Meine Erwiderung: »Die Einlassungen der Sexualtherapeutin Dr. med. Heike Melzer sind in erster Linie vor dem Hintergrund ihrer Klientel der Arztpraxis für Coaching & Psychotherapie zu verstehen, die bekanntermaßen eine Extremvariante darstellt und ca. 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, je nach Untersuchungsmethode…

Ihre Ausführungen sind entsprechend zunächst nicht so ohne Weiteres übertragbar auf die so genannte Normalpopulation, und um die geht es hier in diesem Interview. Es geht um the kid next door. [Jugendliche, wie die Blogautorin eingrenzt, Anm.] ...

Also – was man bei Frau Melzer beachten muss, Sie betrachtet vornehmlich den Suchtaspekt von Sexualität, der bei ca. 80 Prozent der Bevölkerung keine nennenswerte Rolle spielt.

Wenn also konstatiert wird »Insbesondere die neuen Medien haben neben dem Kommunikations- auch das Sexualverhalten der Menschen stark verändert«, kann ich nur sagen: So what?

Veränderte Masturbationspraktiken-, Gang-Bang- und Deep-Throat, wie sie von Frau Melzer herangezogen werden, stellen nicht bereits aus sich heraus etwas Verwerfliches da …

Abzulehnen sind – wie auf allen Ebenen – die Übertreibungen, die man auch Neurosen nennt. Und mit denen hat Frau Melzer in ihrer Arztpraxis für Coaching & Psychotherapie zu tun.«

Diese Position von mir war für Moorleiche Anlass für einen Rundumschlag, der ab hier nachzulesen ist.

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Und nun das:

In meiner Tageszeitung vom heutigen Tage (Ausgabe 'Ruhr Nachrichten Schwerte', 17.05.2019, Seite 21) veröffentlicht Marco Krefting folgenden Interview-Auszug mit Frau Melzer:

Was ist eine zwanghafte sexuelle Störung?

Wie bei anderen Süchten gehört dazu eine obsessive Beschäftigung mit dem Suchtmittel, in diesem Fall mit sexuellen Fantasien, und/oder die Anbahnung von vorwiegend unverbindlichen oder käuflichen sexuellen Kontakten. Damit einhergehend finden wir über die Zeit eine Toleranzentwicklung und Dosissteigerung. Das heißt: Was am Anfang gezogen hat, ist irgendwann trist. Ich brauche härteres Material, jüngere Darsteller, schnell aufeinanderfolgende Videosequenzen und dehne meinen Konsum immer mehr aus. Dabei verändern sich die Vorlieben, denn unser Belohnungssystem im Gehirn benötigt für einen Kick immer neues Material. Es steigt die Zahl der Sexkontakte. Ein Patient sagte mal: „Wenn der Schlüpfer fällt, ist es schon wieder hinüber.“ Dann geht die Suche von vorne los.

Und dann gibt es den Kontrollverlust: Trotz negativer Konsequenzen in der Partnerschaft, dem Beruf, der Gesundheit, finanzieller Engpässe oder Konflikte mit dem Gesetz können Betroffene ihr Verhalten nicht mehr stoppen. Versprechen werden gebrochen und das eigene Verhalten verharmlost.

Wie viele Betroffene gibt es?

Es gibt Schätzungen in Höhe von einer halben Million Sex- und Pornosüchtigen in Deutschland. Hinzu kommt eine ähnliche Zahl indirekt betroffener Partner und Familienangehöriger. Neun von zehn Betroffenen sind männlich.

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»Es gibt Schätzungen in Höhe von einer halben Million Sex- und Pornosüchtigen in Deutschland.« - Das ist nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung bei ca. 80 Millionen Einwohnern in Deutschland.

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Nachtrag/Präzisierung per 18.05.2019:

Moorleiche leitete damals aus den Einlassungen von Dr. Heike Melzer eine allgemeine Sexsuchtgefährdung (»ein zunehmendes Problem der Jugend und jungen Erwachsenen«) ab, während ich argumentierte, dass diese Gefährdung für 80 Prozent der Bevölkerung überhaupt keine Rolle spielt. – Wir hatten uns beide geirrt: Seit neuestem wissen wir, dass sie für mehr als 99 Prozent der Gesamtpopulation keine Rolle spielt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Flegel

Manches, was vom Tisch gefegt wird, findet sich unter dem Teppich wieder.

Flegel

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