Make Italia great again

Italien Matteo Salvini will Ministerpräsident werden. Er profitiert von einer schlauen Kommunikationsstrategie und von den tiefen, alten Rissen in der Gesellschaft

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Der Konflikt zwischen Fünf Sterne und Lega findet auch in den sozialen Medien statt
Der Konflikt zwischen Fünf Sterne und Lega findet auch in den sozialen Medien statt

Foto: Miguel Medina/AFP/Getty Images

Man kann wirklich nicht sagen, dass es überraschend kam. Seit der Regierungsgründung im Juni 2018 verging fast kein einziger Tag, an dem die zwei Verbündeten Lega und Fünf-Sterne nicht in Konflikt traten. Jedes Mal bemühten sich die zwei Parteien, zumindest vor der Presse, Harmonie zu zeigen, doch diese Harmonie war ganz klar schon immer mehr Schein als Sein. So war die Frage eher: Wann wird die Koalition platzen? Aus welchem Grund? Und vor allem: Wer wird sie beenden? Dass es ausgerechnet Anfang August passierte, kurz vor der Sommerpause des Parlaments und in den Tagen, an denen die Italiener traditionsgemäß Urlaub haben, hatte wahrscheinlich keiner geahnt. Man wusste zwar, dass die Schnellzugverbindung zwischen Turin und Lyon, die sogenannte TAV, zu den Themen gehörten, die als explosiv galten und die Koalition hätten begraben können. Man dachte aber, dass das auf Initiative der Fünf-Sterne Bewegung, die im Parlament ihre Opposition zum Projekt nicht durchsetzen konnten, passierte. Das war falsch. Denn Innenminister Matteo Salvini suchte scheinbar einen Grund, um sich vom ungeliebten Koalitionspartner zu befreien. Er fand ihn eben in der sehr umstrittenen TAV, aber es hätte auch etwas anderes sein können, denn darum geht es am Ende: Für den zynischen Innenminister sind die Zeiten (sprich: die Umfragewerte) reif genug, um allein anzutreten und das Präsidentenamt einer recht-rechten Regierung für sich zu beanspruchen.

Was wird nun passieren? Die Unberechenbarkeit der italienischen Politik lässt etliche Szenarien offen. Es ist möglich, dass der Präsident der Republik eine technische Regierung beruft, wie schon mehrmals in der Vergangenheit, um das wichtige Haushaltgesetz vor dem Ende des Jahres zu verabschieden. Oder, dass die Partito Democratico und die Fünf-Sterne ein Bündnis gründen. Oder, dass ein Parlamentsgesetz der Fünf-Sterne, das eine Reduzierung der Abgeordnetenzahl vorsieht, verabschiedet wird. Oder vielleicht, dass man schon im Oktober wählen geht. Und nach der Wahl? Wird Salvini mit Berlusconi regieren? Oder nur mit der rechten Partei Fratelli d'Italia? Es ist zu früh, um Prognosen zu wagen. Die Frage aber bleibt: Warum stimmen laut Umfragen 36% der italienischen Wähler für eine rechtsradikale Partei wie die Lega?

Diese Frage ist nicht nur für Italien relevant, denn das Land gilt schon lange als politisches Labor für das ganze Europa. Bestimmte Phänomene, wie Populismus, Kult des politischen Leaders oder Verharmlosung des Rechtsradikalismus, die sich in immer mehr europäischen Ländern beobachten lassen, erschienen in Italien schon vor Jahrzehnten. Der Historiker Paul Ginsborg, der seit langem im Belpaese wohnt, schrieb im seinem Buch Italien retten: „Es ist längst zu einem Gemeinplatz der internationalen Presse geworden, Italien eine Sonderrolle in der modernen Welt zuzuschreiben: die Rolle nämlich, immer wieder neue Modelle der Diktatur zu erfinden“. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, so Ginsborg, „war der italienische Faschismus das erste Beispiel einer modernen, auf die Massen gestützten Tyrannei, das vielfach nachgeahmt und in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten weiterentwickelt wurde. Heute wächst die – späte – Erkenntnis, dass die Jahre unter Silvio Berlusconi nicht nur ein flüchtiges Spektakel waren, sondern einen neuen Typus von Regierung geschaffen haben – ein Regime, das zwar formal demokratisch ist, in Wirklichkeit aber stark von oben kontrolliert wird“.

Und jetzt? Der sogenannte Salvinismus, nämlich der Rechtsruck auf der Ebene der Institutionen, den wir gerade mit der Lega und ihrem Chef erleben, ist an sich keine Erfindung Italiens, sondern wurde schon von einigen Visegrad-Ländern wie Polen und vor allem Ungarn getestet. Neu ist aber sein Erfolg in einem Land, das für Größe und Relevanz zu den Schwergewichten der Europäischen Union zählt, und außerdem eine komplett andere Geschichte hat. Während die Visegrad-Staaten bis zum Mauerfall den starken Machteinfluss der sowjetischen Union erleben mussten, der jeden Demokratisierungsprozess verhinderte, ist Italien seit 1945 offiziell ein freies und demokratisches Land. Ob es auch ein modernes Land ist? Laut einigen Forschern hat Italien den Übergang von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft nicht schmerzlos überstanden. Nicht in seinen ökonomischen Strukturen, denn natürlich ist es keine Agrarwirtschaft mehr und sogar der zweitgrößte Warenproduzent Europas nach Deutschland, sondern in seinen sozialen. Italien bleibt ein gespaltetes Land, in dem sich eine offene und moderne Gesellschaft, progressiv und zukunftsorientiert, und eine traditionelle und geschlossene Gesellschaft, die prinzipiell jede Änderung fürchtet, gegenüberstehen. Diese Kluft, die seit der Wirtschaftskrise 2009 gefühlt immer größer wird, zusammen mit einer seit Jahrzehnten stagnierenden Wirtschaft, mit der Schwäche des Staates, der es in der 150-jährigen Geschichte der Republik nie geschafft hat, sich komplett durchzusetzen, mit der Abwesenheit jeglicher ernster Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen und faschistischen Vergangenheit, plus die Faszination für die starken politischen Führer, schafft den Nährboden für rechtsradikale Experimente à la Salvini. Wer Matteo Salvini wählt, wählt nicht nur eine restriktive Migrationspolitik, sondern ein Land, in dem die Macht in den üblichen Sphären bleibt, in dem Frauen bestimmte traditionelle Rollenbilder zugesprochen werden, in dem das Progressionsprinzip im Steuersystem infrage gestellt wird, in dem der Nationalstaat deutlich wichtiger wird als die Europäische Union. Das Italien von Salvini ist wie die Vereinigten Staaten von Trump: ängstlich, höchst verbittert, mit dem utopischen Traum, great again zu werden.

Die Fünf-Sterne Bewegung hat enorme Fehler begangen. Matteo Salvini hingegen hat es in etwas mehr als einem Jahr geschafft, seine Partei von der dritten zur ersten politischen Kraft des Landes zu machen. Seine Social-Media-Auftritte, die darauf gerichtet sind, die Wähler direkt und filterlos zu erreichen, und sein Kommunikationsstil, der ihn als Durchschnittsbürger von nebenan präsentiert, mit dem man sich identifizieren kann, haben maßgeblich zu seinem Erfolg beigetragen. Nun will er Ministerpräsident werden. Ob er das schafft, ist alles außer sicher: Die Geschichte der italienischen Politik ist voll von Persönlichkeiten, die einen raschen Aufstieg und Fall erlebt haben, zum Beispiel Matteo Renzi. Sollte er hingegen gewinnen, werden wir zwar keinen Austritt Italiens aus der EU und dem Euroraum erleben: Salvini weiß, dass sein Land außerhalb der Union nichts zu suchen hat, vielmehr wird er versuchen, Europa von innen zu radikalisieren. Und damit zu schwächen.

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