Hunger und Unterernährung: Die Hungerkurve zeigt nach oben
Ernährung Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft soll helfen, den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Eine Allianz zwischen den USA und China gewährt Agrarmultis Einfluss auf die Organisation. Immer mehr Menschen leiden an Unterernährung
Hospital im Tschad, eines der LIFDC-Länder „mit hohem Lebensmitteldefizit“
Foto: Pep Bonet/Noor/Laif
Hunger und Unterernährung bestimmen den Alltag für Millionen, ja, Milliarden von Menschen. Und die Zahlen steigen wieder, nicht nur wegen der Corona-Folgen, der Klimaveränderung und des Ukraine-Krieges. Schon bevor der begann, zeigte die Hungerkurve nach oben. Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft FAO verharrt eher hilflos gegenüber diesem Trend und scheint die Verantwortung hierfür immer mehr an die Gates-Stiftung und multinationale Konzerne abgeben zu wollen. Am Hunger in einer Welt des Überflusses ändert das nichts. Nach Angaben des aktuellen FAO-Berichts leiden derzeit 735 Millionen Menschen an völliger Unterernährung, 122 Millionen mehr als vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Dazu kommt, dass geschätzte 29,6 Proz
rozent der Weltbevölkerung, also weitere 2,4 Milliarden Menschen, keinen das ganze Jahr über sicheren Zugang zu ausreichender Nahrung haben.An das international vereinbarte Ziel, bis zum Jahr 2030 den Hunger in der Welt zu beenden, glaubt niemand mehr. Dabei hat Hunger mehr mit Elend und Ungleichheit zu tun als mit Nahrungsmittelproduktion, die heute ausreichen würde, zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Eine Mehrheit der vom Hunger Betroffenen lebt in ländlichen Regionen der Erde, wo Nahrung produziert wird. Nur auf den ersten Blick ist das ein Widerspruch, denn Millionen von Kleinbauernfamilien fehlt es an Land, sicherer Bewässerung sowie guten Konditionen für Saatgut und Kredite. Millionen von Landarbeitern beziehen Hungerlöhne und haben meist kein festes Einkommen. Stark betroffen von Rohstoffausbeutung und Vertreibung sind indigene Völker. Frauen leiden in allen Gruppen überproportional an Not und Entbehrung.Resilienz, Digitalisierung, Gebrauch von Kunstdünger, Innovation, Wertschöpfungsketten – so lauteten die überwiegend technisch konnotierten Themen des UN Food Systems Summit 2 in dieser Woche am FAO-Sitz in Rom. Manches von dem, was dort verhandelt wurde, schien weit weg von den oben beschriebenen Problemen zu sein. Der chinesische FAO-Generalsekretär Qu Dongyu hat in den zurückliegenden Jahren eine Koalition der USA und Chinas geschmiedet, die nicht auf das Menschenrechtsgebot der UN, sondern das Mitwirken internationaler Großkonzerne setzt. So spielt die Gates-Stiftung bei der Finanzierung wichtiger FAO-Programme und der Auswahl der Gipfelthemen eine wichtige Rolle. Unter Qu Dongyu hat die FAO zudem Kooperationsabkommen mit dem Davoser Weltwirtschaftsforum und Crop Life, dem Verband internationaler Pestizidhersteller, geschlossen. Da kann es nicht erstaunen, dass – wie eine ARD-Recherche kürzlich aufdeckte – die FAO in letzter Zeit eine ganze Reihe hochgiftiger, in der EU verbotener Pestizide in ihren Hilfsprogrammen zugelassen hat.Die Lösung: Lokale Produzenten zu Wort kommen lassenViele dieser Produkte stammen von Syngenta, einem inzwischen chinesischen Unternehmen. Ganz anders der Ansatz vieler kleinbäuerlicher Produzenten. „Die Lösung für die Hungerbekämpfung ist eigentlich einfach“, sagt Ibrahima Coulibaly, Präsident des westafrikanischen Bauernnetzwerkes ROPPA. „Man muss nur auf die lokalen Produzenten hören und ihre Strukturen stärken. Sie brauchen die Kontrolle über das Land und andere produktive Ressourcen. Agrarökologische Modelle und das einheimische Saatgut müssen gefördert werden.“Doch die lokalen Organisationen will die FAO immer weniger anhören, obwohl der ihr zugeordnete Welternährungsausschuss seit 2009 „als einzige inklusive Multistakeholder-Plattform die Beteiligung und Mitsprache aller Akteure“ gewährleistet, so eine Sprecherin des Bundesagrarministeriums. In der Tat: Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft können dort mitdiskutieren, die Stimmrechte bleiben bei den Staaten. Im Welternährungsausschuss wurden wertvolle Konzepte zum Recht auf Nahrung, der Sicherung von Landrechten, kleinbäuerlicher Landwirtschaft und Agrarökologie entwickelt.Als eine „ausdrückliche Ablehnung der Idee des Fortschritts selbst“, bezeichnete Kip Tom, ehemaliger US-Botschafter bei der FAO, 2019 diese Debatten und traf damit das Ohr von Klaus Schwab, dem Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums. Der setzt seit Längerem mit strategischem Weitblick auf eine stärkere Präsenz globaler Konzerne als „Treuhänder der Gesellschaft“ im UN-System. Der erste UN Food Systems Summit vor zwei Jahren muss als wichtiger Schritt gesehen werden, um Konzernen – etwa aus dem Lebensmittel- und Agrarsektor – ein Diskussionsrecht auf Augenhöhe mit Staaten einzuräumen, das sie für ihnen genehme Sachverhalte nutzen konnten. Es sollten daraus keine Parallelstrukturen zum Welternährungsausschuss entstehen, versicherte die UNO. Genau dies aber ist geschehen. Und der gerade abgehaltene zweite Gipfel über Food Systems war davon geprägt. Dessen Koordinationsbüro verfügt bereits über mehr als das Doppelte des Budgets des Welternährungsausschusses.Trotz der Einrichtung eines Referats für das Recht auf Nahrung in seinem Ministerium meinte auch Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne), am Food Systems Summit 2, der Menschenrechte als Marginalie ansah, teilnehmen zu müssen. „Die starke Präsenz der Unternehmen auf diesem Gipfel vermittelte den Eindruck, als wären sie die wesentlichen Akteure für die Produktion von Lebensmitteln – als wären ihre Interessen die der Allgemeinheit. Doch der Großteil der Nahrungsmittelproduktion liegt nach wie vor in der Hand kleinbäuerlicher Produzenten“, erläutert Sofia Monsalve, Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation FIAN. „Diese werden jedoch von den Konzernen an die Wand gedrückt – vor Ort und nun auch in den Vereinten Nationen. Gleichzeitig entziehen sich die Agrarunternehmen jeder Rechenschaftspflicht in Sachen Menschenrechte. Vielfach sind sie selbst Teil der Probleme im Welternährungssystem.“Wenige Konzerne dominieren den internationalen Markt für LebensmittelKaum ein Sektor wird durch einige wenige Konzerne so dominiert wie die Lebensmittel- und Agrarbranche. Nicht zufällig erzielten sie in den vergangenen Jahren Extraprofite. Das Schweizer Unternehmen Nestlé machte im Vorjahr einen Reingewinn in Höhe von umgerechnet elf Milliarden Dollar, der größte US-Supermarkt Walmart gar von 20 Milliarden. Zum Vergleich: Die gesamte FAO hatte 2022 ein Budget von 3,25 Milliarden Dollar, während die Gates- Stiftung im gleichen Zeitraum locker 1,4 Milliarden Dollar für die Klimaanpassung u. a. durch Gentechnik und andere Technologien in der afrikanischen Landwirtschaft zusagen konnte.Gleichzeitig liegt die Verantwortung für die Klimaerosion zu einem großen Teil bei der industriellen Landwirtschaft, und eine sehr viel nachhaltigere bäuerliche Landwirtschaft leidet darunter. Die Spekulation mit Lebensmitteln flankiert jede Krise, wie sich das gerade mit dem Ukraine-Krieg zeigt. Die Abhängigkeit von Getreideexporten aus der Ukraine und aus Russland ist ein Indiz dafür, wie verfehlt eine internationale Agrarpolitik war, indem sie dem Weltmarkt eine Priorität gegenüber lokaler Versorgung gab, die Staaten in Afrika zu mehr Ernährungssouveränität verhilft.Wenig überraschend sehen viele Bauernbewegungen und NGOs die aktuellen Tendenzen in der FAO und der UNO mit Skepsis. Sie haben deshalb nicht am Gipfel in Rom teilgenommen, während moderatere Gruppen sich gern einbeziehen ließen. Dass kritische Stimmen mehr Einfluss gewinnen, zeichnet sich im Moment nicht ab. Das Beunruhigende an diesem Prozess besteht darin, dass er als ein Modell für die anstehende größere UN-Reform vorausgeahnt werden kann.Placeholder authorbio-1