Die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio in der vergangenen Woche macht alle Prognosen für die anstehenden Neuwahlen zu Parlament und Präsidentenamt am 20. August noch unsicherer als zuvor. Sehr viel klarer wird dagegen die Tiefe der Krise, in der der Andenstaat steckt. Es ist allerdings fraglich, ob der Wahlausgang gute Grundlagen schaffen wird, diese zu überwinden. Das Attentat mitten in der Hauptstadt Quito gegen einen Kandidaten unter Polizeischutz wirft viele Fragen über die Hintergründe auf. Tragen Teile des Staatsapparats, die Drogenmafia oder politische Konkurrenz die Verantwortung? In jedem Fall war es ein deutliches Signal: Der ecuadorianische Staat kann nicht für die Sicherheit seiner Bürger und Bürgerinnen
Attentat auf Präsidentschaftskandidat: Wieder eine lange Nacht des Neoliberalismus
Ecuador Ecuador sollte ein Vorbild für Naturschutz werden, jetzt ist es ein Narco-Staat. Ein Kandidat für die vorgezogenen Neuwahlen wurde gerade erschossen – trotz Polizeischutz

Polizisten tragen den Sarg des getöteten Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio während dessen Beerdigung am 11. August 2023
Foto: Rodrigo Buendia/ AFP
en sorgen. Oder er will es nicht.Villavicencio war nicht das erste Opfer politischer Gewalt in diesem Jahr. Im Juli wurde der Bürgermeister der Hafenstadt Manta am helllichten Tag erschossen, Ende März fand man die Leiche eines Geschäftsmannes mit engen Beziehungen zur albanischen Drogenmafia – und zum Schwager des Präsidenten Guillermo Lasso. Reflexartig verhängt dieser nach solchen Taten den Ausnahmezustand, auch im Fall Villavicencio, übrigens zum siebzehnten Mal seit seinem Amtsantritt im Mai 2021. Die Mordwelle wurde dadurch weder reduziert, noch konnten die Taten aufgeklärt werden.Rafael Correa lebt im ExilBislang war eine zentrale Figur im Wahlkampf ein Mann, der nicht kandidieren kann, da er wegen Bestechlichkeit zu acht Jahren Haft verurteilt wurde und im belgischen Exil lebt: Rafael Correa, von 2007 bis 2017 Präsident des Andenstaates. Bis heute wird er von vielen Menschen fast mystisch verehrt, von vielen anderen gehasst. Diese Spannung dürfte sich durch das Attentat zuspitzen. Denn zwischen Villavicencio und Correa gab es einen jahrelangen erbitterten Konflikt über Korruptionsvorwürfe, die der Journalist dem Ex-Präsidenten gemacht hatte. Zunächst wurde Villavicencio von Correa während dessen Amtszeit mit juristischen Mitteln überzogen und über Monate in ein Dschungelversteck gezwungen. In den vergangenen Jahren hat Villavicencio mit seinen Recherchen zur Verurteilung Correas und enger Gefolgsleute sowie anderer Akteure beigetragen.Die politische Instrumentalisierung der Justiz sowie eine enorme politische Polarisierung sind Überbleibsel der Correa-Jahre. Die traditionell weitverbreitete Korruption hat seine Regierung nach einigen Anfangserfolgen nicht eindämmen können. Eine besondere Dynamik und Dramatik erfährt der ecuadorianische Konflikt aktuell durch den Boom des Drogenhandels und der damit verbundenen Gewaltspirale. Am Tag nach dem Mord fand der Zoll in Rotterdam acht Tonnen Kokain in einem Bananen-Container aus Ecuador. Das Land ist traditionell der wichtigste Lieferant von Bananen für die EU, seit Kurzem auch von Kokain. Die meisten Bananen und Drogen verlassen das Land über den Hafen von Guayaquil (der Freitag 21/2023), einer Drei-Millionen-Stadt, in der aktuell pro Woche mehr Menschen ermordet werden als in Berlin in einem Jahr.Das Kokain stammt in erster Linie aus Kolumbien, wird wegen der „dollarisierten“ Wirtschaft und der schwachen Staatlichkeit zunehmend durch Ecuador verschifft. Inzwischen durchzieht das milliardenschwere Drogengeschäft die ecuadorianische Gesellschaft und Wirtschaft, den Sicherheitsapparat und die Politik. Der US-Botschafter sprach offen von „Narco-Generälen“. Die Justiz ist wenig effektiv, die Gefängnisse befinden sich weitgehend unter Kontrolle der Narcos, die von da ihre Geschäfte steuern. Die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik von Präsident Guillermo Lasso hat im Gefolge der Corona-Pandemie das Land weiter verarmen und insbesondere junge Männer leicht für die unterschiedlichen Drogenbanden rekrutieren lassen.Vor diesem Hintergrund versteht sich die Sehnsucht breiterer Bevölkerungsschichten nach der Stabilität und größeren sozialen Sicherheit der Correa-Jahre. Luisa González dürfte als erste Präsidentschaftskandidatin vorne liegen und ihre Partei „Revolución Ciudadana“ (Bürgerrevolution) die größte Fraktion im neuen Parlament stellen. Im ersten Wahlgang würden mehr als 40 Prozent der Stimmen und ein Vorsprung von zehn Prozent gegenüber dem Zweitplatzierten reichen. Sollte González dies nicht erreichen, wird die Präsidentschaft erst Mitte Oktober in einer Stichwahl entschieden. Im Parlament sind erneut keine klaren Mehrheiten zu erwarten.Dirk Niebel (FDP) hat es verbocktLuisa González hat den ehemaligen Präsidenten Rafael Correa als ihren „wichtigsten Berater“ bezeichnet und bezieht sich immer wieder auf seine Regierungszeit: Correas Amtsantritt im Jahr 2007 hat seine Bewegung als „das Ende der langen Nacht des Neoliberalismus“ in Ecuador beschrieben. Der Präsident wurde anfangs von vielen kritischen Intellektuellen, Basisbewegungen und Indigenas gestützt und von einem enormen Enthusiasmus in der Bevölkerung getragen. Es entstand eine neue Verfassung mit den innovativen Rechten der Natur, dem indigenen Konzept des Buen Vivir (gutes Leben) und dem Anspruch auf Gerechtigkeit und Partizipation.Die Verfassung erhielt mehr als 80 Prozent Zustimmung, Correa wurde 2009 und 2013 mit jeweils mehr als 50 Prozent im ersten Wahlgang im Amt bestätigt. Hohe Ölpreise – das wichtigste Exportgut Ecuadors –, geschickte Neuverhandlungen von Schulden- und Mobilfunkverträgen sowie wachsende Investitionen und Kredite Chinas erweiterten deutlich den Handlungsspielraum des Staates. Die Investitionen in die öffentlichen Gesundheits- und Bildungssysteme, die zuvor stark unter Privatisierungen gelitten hatten, machten gerade für ärmere Bevölkerungsschichten einen relevanten Unterschied.Placeholder image-1Correa war kein Linker, sondern ein Staatsmodernisierer und Nationalist sowie ein zunehmend autoritärer Populist, der dadurch viele seiner ursprünglichen Unterstützer*innen in die Opposition trieb und – zeitgleich mit dem Preisverfall des Erdöls ab 2014 – an Popularität verlor. Der viel zitierte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ war mehr Mobilisierungsslogan denn politisches Konzept. Strukturelle Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft blieben aus. Die extrem ungleiche Landverteilung wurde nicht angetastet, obwohl die Verfassung es fordert. Gewerkschaftsrechte blieben missachtet, die Besteuerung der Reichen limitiert. Insbesondere die Orientierung der Wirtschaft rein auf den Export von Rohstoffen wurde nie überwunden.Über Elemente dieser Politik des „Extraktivismus“ wird ebenfalls am 20. August im Rahmen zweier Referenden abgestimmt: Auf dem Stimmzettel stehen das Verbot neuer Bergbauprojekte in der Großregion Quito und der Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark (siehe Glossar). Letzteres führt in das Herz des ecuadorianischen Entwicklungsmodells und kann deshalb Alternativen für die Zukunft anstoßen. Zu Beginn der Amtszeit Correas unterstützte die Regierung selbst die Idee, die Ölreserven im besonders sensiblen „Block 43“ des Yasuní nicht anzutasten, falls die internationale Gemeinschaft die Hälfte der erwarteten Erlöse aufbringen würde. Es war maßgeblich der damalige deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), der dagegen Stimmung machte. Das notwendige Geld kam nicht zusammen, Correa ordnete 2013 die Ölförderung im Yasuní an.Placeholder infobox-1Daraufhin organisierte sich eine lose Gruppe überwiegend junger Menschen im Kollektiv Yasunidos und strebte eine Volksabstimmung gegen die Ölförderung im Nationalpark an. Das Thema gewann schnell Dynamik und Breite, die Yasunidos konnten 670.000 Unterschriften einreichen: deutlich mehr als die für ein Referendum notwendigen fünf Prozent der Wahlberechtigten. Correa denunzierte die Aktivisten und Aktivistinnen als „infantile Ökologen“, und die zuständigen Gerichte und Bürokratien ließen sich hanebüchene Argumente einfallen, warum die Unterschriften nicht korrekt eingeholt worden wären. Fast zehn Jahre dauerte der Streit darüber, bis das Verfassungsgericht im Mai 2023 ein entsprechendes Referendum festlegte, welches nun zeitgleich zu den Wahlen stattfinden wird.„Wir sind optimistisch, dass es eine Mehrheit gegen die weitere Ölförderung im Block 43 des Yasuní geben wird. Bei anderen Referenden zu Umweltthemen war der Ausgang immer positiv. Die Erfahrungen mit Ölprojekten der vergangenen 50 Jahre waren für die Menschen nie gut,“ erläutert Antonella Calle, eine der Sprecherinnen des Yasunidos-Kollektivs gegenüber dem Freitag. „Aber wir müssen auch sehen, dass die Kampagne der Ölkonzerne und ihrer Alliierten in den traditionellen Medien sehr stark ist. Doch zahlreiche Organisationen, viele ohne Umweltbezug, unterstützen das Referendum.“Das Öl unter der Erde lassenFaktisch hat die Mehrheit der Menschen in Ecuador nicht vom Ölboom profitiert, am wenigsten die Regionen der Erdölförderung im Amazonas, die bis heute zu den ärmsten im Land zählen. Zwischen 2012 und 2022 hat es offiziell 1.584 Lecks mit dem Austritt von Erdöl in die Natur gegeben. Ölförderung zieht Straßenbau und damit Entwaldung des Amazonas nach sich. In Zeiten der Klimakatastrophe scheint es wenig Sinn zu machen, dieses Projekt mitten in einem einzigartigen Regenwald weiter voranzutreiben, zumal die realen Erträge weit geringer sein dürften als von der Regierung angegeben und allein durch die Eintreibung von Steuerschulden der Reichen auszugleichen wären. Doch wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?Placeholder image-2Ein positiver Ausgang des Referendums wäre zumindest ein Zeichen für das Land: mehr Partizipation der Bevölkerung statt Parteiengeschacher, nicht brutale Ausbeutung von Mensch und Natur, sondern ein harmonisches Miteinander. In diese Richtung argumentiert der Kandidat Yaku Pérez, langjähriger Aktivist der großen Indigena-Bewegung, die sich allerdings im Vorlauf zu den Wahlen erneut zerstritten hat. Ob sein alternativer Ansatz ausreichend Stimmen für eine Teilnahme an den Stichwahlen mobilisieren kann, lässt sich in der aufgeheizten Stimmung nach dem Mord an Villavicencio nicht sagen. Als bewusster Gegenpol und eine Art ecuadorianischer Bukele (autoritärer Präsident in El Salvador) gibt sich der rechte Unternehmer und ehemalige Kämpfer in der Fremdenlegion Jan Topic. Spekuliert werden kann auch, inwieweit der Ersatzkandidat für Fernando Villavicencio, dessen Freund und Journalistenkollege Christian Zurita, einen Aufschwung nehmen wird.Was jedoch sicher ist: Die neue Regierung wird sehr wenig Zeit für Reformen und konkrete Schritte gegen die multiplen Krisen im Land haben. Denn es sind vorgezogene Neuwahlen, nachdem Präsident Lasso das Parlament aufgelöst hatte, um seine Abwahl durch dasselbige zu vermeiden. Deshalb steht das Land nach 18 Monaten schon wieder vor dem nächsten routinemäßigen Wahltermin: So schreibt es die Verfassung vor.