Von Siedlern und Ureinwohnern

Wundersamer Alltag Wer darf das digitale Land beanspruchen, weil es seine Heimat ist? Die Diskussion um den Begriff der "digital natives" ist der Versuch, Machtfragen zu entscheiden.
Womöglich ein „digitaler Eingeborener“ beim Abstecken seines Territoriums?
Womöglich ein „digitaler Eingeborener“ beim Abstecken seines Territoriums?

Foto: soopahgrover

Es ist eine amüsante Diskussion über die Frage entbrannt, wer die wahren Eingeborenen der digitalen Welt sind. Sind es die nach 1980 oder 1990 geborenen, die in ihrem Alltag ganz selbstverständlich mit Smartphone, Google und Wikipedia agieren? Oder sind es nicht eher diejenigen, die zuerst Mails versendet, Diskussionsforen aufgebaut, soziale Netzwerke im Internet geknüpft, gebloggt und Wikipedia-Artikel geschrieben haben, und deren Alltag eher darin besteht, immer neue Dienste aufzubauen? Der Begriff „digital natives“ ist ja eigentlich vor rund 10 Jahren geprägt worden, um die erste Gruppe zu kennzeichnen, aber hier und da haben sich auch Vertreter der zweiten Gruppe mit diesem Etikett versehen. Nun ist in der NZZ ein Artikel erschienen, der zeigt, dass diese jungen Menschen gar nicht so vertraut sind mit den digitalen Werkzeugen, mit denen sie aufgewachsen sind und die sie so selbstverständlich verwenden. Das hat in sozialen Netzwerken zu Debatten darüber geführt, wer sich zu recht als „digitaler Eingeborener“ bezeichnen darf.

Die Frage beschäftigt die Gemüter, weil die Eingeborenen nun mal ein quasi natürliches Recht auf das Land, in dem sie leben, und auf die Deutungshoheit der Kultur, die sich dort etabliert hat, haben. Aber wenn man es genau betrachtet, zeigt die ganze Diskussion vor allem eins: Der Begriff des „native“, also des Eingeborenen, des Ureinwohners, führt bei der sozialen Wirklichkeit von mobiler Kommunikation und sozialen Netzwerken in die Irre.

Kritik der vernetzten Vernunft

Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit, z.B. in die Zeit der Besiedlung Amerikas. Dort gab es in der Tat Ureinwohner, Eingeborene, es waren diejenigen, die wir als Indianer bezeichnen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst ihre Kultur als stabil erlebten, dass jede Erinnerung an eine Zeit, in der es anders war als heute, verschwunden oder allenfalls in Mythen verfügbar war. Das ist, wie ich in der „Kritik der vernetzten Vernunft“ beschrieben habe, das Wesen dessen, was wir mit dem Begriff „Kultur“ bezeichnen: Das Sediment aus Traditionen, die so selbstverständlich sind, dass man sie gar nicht ohne weiteres in Frage stellen kann. Die Eltern von Ureinwohnern waren auch immer schon Ureinwohner.

In dieser Situation sind weder diejenigen, die die Regeln der Sozialen Netzwerke geschaffen haben, die die ersten Wikipedia-Artikel geschrieben und die ersten Blogs geschrieben haben, noch jene, die in bestehende Systeme und strukturen eingestiegen sind. Erstere kann man, um im Bild der „Entdeckung Amerikas“ zu bleiben, vielleicht als Siedler oder Pioniere bezeichnen, letztere sind entweder den Nachzüglern oder den Kindern der Pioniere zu vergleichen. Niemand käme auf die Idee, die Kinder der ersten weißen Siedler als Eingeborene anzusehen, nur weil für sie die Häuser und Wege, die ihre Eltern gebaut haben, schon selbstverständlich vorhanden waren: Die Erinnerung an die Zeit davor ist ja noch nicht verlasst, und vieles ist noch in Veränderung.

Keine kulturelle Tradition

Zum Glück gibt es in der Geschichte der Besiedlung des digitalen Landes keine „Indianer“ die vertrieben, ausgerottet oder in Reservate gesperrt werden – denn das Land ist ein unbesiedeltes, oder sogar Neuland. Aber weder die ersten Siedler noch die, die das Land vorfanden, sind Eingeborene, und das Leben in diesem Land ist so unstabil, so dynamisch, dass es gar keine Selbstverständlichkeiten geben kann.

Warum diese lange Diskussion um ein kleines Wort, das vielleicht nur eine schlechte Metapher ist? Weil sich mit der Zuschreibung, dass diese oder jene die Einheimischen sind, eben immer ein Machtanspruch verbindet, wer sich an wessen Regeln zu halten habe. Aber die Regeln, ob in Blog-Communities oder in der Piratenpartei, sind noch gar nicht als kulturelle Tradition etabliert, es gibt noch gar keine Kultur. Es gibt ein paar künstlich aufgestellte Verfahren, von denen die „alten Hasen“ manchmal meinen, man hätte sie zu beachten, um mitspielen zu dürfen – ganz wie früher im Sandkasten. Aber dazu ist das soziale System, das sich mit dem Internet bildet, noch viel zu dynamisch – und das ist auch gut so. Machtstrukturen kommen da noch früh genug.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Veränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche fragte er nach der Entwertung von nützlichen Fähigkeiten durch digitale Werkzeuge.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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