Sterne sehen

Wundersamer Alltag Wissen, das vor Jahren noch Eindruck machte, hat an Wert verloren, seitdem immer und überall das Internet verfügbar ist. Aber wirkliches Wissen glänzt weiter

Lauer Sommerabend, klares Wetter, Freunde und Fremde stehen plaudernd zusammen. Die ersten Sterne erscheinen am Firmament. Das war über Jahre der Moment, wo man sich neben eine Party-Besucherin stellen konnte und wissend in Richtung Himmel deutend sagen konnte: "Sehen Sie? Jupiter. Und dort drüben: Saturn." Wissen über den Sternenhimmel, Sternzeichen, Doppelsterne, Planetenkonstellationen – damit konnte man lange Zeit beeindrucken und im wahrsten Sinn des Wortes "Nähe schaffen" – doch das ist vorbei.

Als ich neulich in so einer warmen Sommernacht wieder einmal die Gelegenheit ergriff, zückte meine Gesprächspartnerin ihr Smartphone, richtete die Kamera auf den leuchtenden Punkt, den ich gerade stolz als Jupiter identifiziert hatte und sagte "Wega". Ein Wort, das meine jahrzehntelange Gelehrtheit über Sterne und Planeten in lauen Sommernächten wertlos machte. Aus unserem Gespräch über Sterne wurde ein Gespräch über Smartphone-Apps und jeder, der schon einmal ein solches Gespräch geführt oder ihm gelauscht hat, weiß, dass dabei niemals Nähe entsteht.

Man kann die mobile Verfügbarkeit von Informationen – so zeigt es das Beispiel – als Emanzipation von neumalklugen Besserwissern interpretieren. Niemand muss sich mehr die Sterne vom Himmel herunter erzählen lassen. Andererseits sind Party-Gespräche über Sterne und Planeten nicht als Lehrveranstaltungen konzipiert, es kommt weniger auf die einzelnen Fakten als auf den angenehmen Fluss des Gesprächs an.

Trotzdem verweist der Fall auf einen Trend, der gegenwärtig häufig sichtbar wird: Die Entwertung von erstaunlichem persönlichen Wissen und beeindruckenden individuellen Fähigkeiten durch Dienste, die jeder durch ein kleines mobiles Gerät an fast jedem Ort nutzen kann. Bewunderte man vor Jahren noch den Berliner Taxifahrer dafür, dass er jede Straße der Stadt kannte und den schnellsten Weg dorthin wusste, prüfen wir heute mit einer Navigations-App auf dem Handy, ob der Fahrer auch die preiswerteste Route wählt.

Irrtum, Großmäuligkeit oder Hinterlist

Jemandem am eigenen Wissen teilhaben zu lassen, baut Nähe und Vertrauen auf, sei es zum anderen Partygast oder zum Taxifahrer. Das Smartphone erlaubt uns und provoziert uns geradezu, solches Wissen in Zweifel zu ziehen – Misstrauen entsteht, weil wir im Einzelfall den simplen Irrtum nicht von Großmäuligkeit oder Hinterlistigkeit unterscheiden können. Meine Zufallsbekanntschaft in der Sommernacht kann mich, weil ich den Stern Wega für den Planeten Jupiter hielt, für einen schlichten Angeber halten, der Taxifahrer, der eine andere als die vom Smartphone vorgeschlagene Route nutzt, wird dem Vorwurf der Geldschneiderei ausgesetzt.

Aber das mobile Telefon, mit dem Internet verbunden, liefert immer nur Daten und Fakten, und kein Wissen. Deshalb hat der Taxifahrer gar kein Problem, wenn er mit dem Vorwurf konfrontiert wird, die falsche Strecke gefahren zu sein: Er weiß, wo die Staus in der Stadt wirklich sind, er hat eigene Erfahrung darin, wie schnell man auf einer Abkürzung voran kommt. Er kennt seine Stadt nicht besser, sondern anders als sein Internetunterstützter Passagier.

Und genauso ich an jenem Sommerabend. Natürlich konnte ich erklären, wie es sein konnte, dass ich mich irre. Und wie schade es ist, dass es Wega ist und nicht Jupiter, davon konnte ich auch berichten. Schließlich ist der Jupiter von Monden umgeben, die man mit einem Feldstecher schon erkennen kann – und das sollte man, in lauen Sommernächten, unbedingt einmal gemeinsam ausprobieren.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Veränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche fragte er nach dem Unterschied zwischen Bundesverfassungsgericht und Königshaus.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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