1982: Die FDP verlässt die Koalition mit der SPD und stürzt Kanzler Helmut Schmidt
Zeitgeschichte Dem durch ein konstruktives Misstrauensvotum erzwungenen Kanzlerwechsel von Helmut Schmidt (SPD) zu Helmut Kohl (CDU) ging eine Reihe sozial- und wirtschaftspolitischer Tabubrüchen voraus. Der Neoliberalismus wurde zum beherrschenden Dogma
Helmut Kohl und Helmut Schmidt bei einer Fernsehdebatte vor der Bundestagswahl 1976. Schon damals gab es, anders als heute, eine parlamentarische Mehrheit für Schwarz-Gelb
Foto: Werek/SZ-Photo
Der Begriff „Wende“ ist seit 1989 in der Zeitgeschichtsschreibung besetzt und meint den Systemwechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus in der DDR. Vergessen wird dabei, dass die Abwahl des Kanzlers Helmut Schmidt und seine Ersetzung durch Helmut Kohl 1982 bereits so bezeichnet wurde und damals als ein politisches Großereignis galt. Im Nachhinein erscheint dieses eher als eine Episode innerhalb eines jahrzehntelangen Prozesses, der in seiner Gesamtheit die Bezeichnung „Wende“ viel mehr verdient und nicht nur Deutschland, sondern die gesamte kapitalistische Welt erfasste: Wirtschaftspolitisch gab es den Übergang vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat zum Marktradikalismus, außenpolitisch den von der Entspannung zu einem neuen Kalten Krieg.
Als Richard Nixon
chard Nixon die Bindung des Dollar an das Gold aufhobEs begann 1973. Der britische Historiker Eric Hobsbawm datiert mit diesem Jahr den Anfang eines „Erdrutschs“. Bereits 1971 hatte US-Präsident Richard Nixon die Bindung des Dollar an das Gold aufgehoben. Am 11. März 1973 gingen die führenden westlichen Staaten zum gemeinsamen „Floaten“ im Verhältnis zu dieser Währung über. Damit begann ein Prozess, der die Funktion des Geldes als – auch – eines internationalen Regulierungsinstruments aufhob. Es wurde stattdessen immer mehr zur Spekulationsware auf den sich nun rasch ausweitenden internationalen Finanzmärkten. Durch die Emanzipation der Währungen vom Dollar erhielten die europäischen Nationalbanken erstmals die Möglichkeit, in ihren jeweiligen Ländern eine inflationsbekämpfende „Politik des knappen Geldes“ ins Auge zu fassen. Ab 1974 setzten sie diese in die Tat um – vorneweg die Deutsche Bundesbank. Sie ging zu einem Kurs der Geldmengenbeschränkung über, die Staatsausgaben und Lohnerhöhungen Grenzen setzte.Nach dem Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 wurde Chile unter einer bis 1990 dauernden Diktatur zum Experimentierfeld für eine Politik, die in der Folgezeit als „Neoliberalismus“ bezeichnet und auch in weiteren Ländern – dort unter anderen politischen, zumeist repräsentativ-demokratischen Formen – praktiziert wurde: Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, Einschränkung staatlicher Sozial- und Infrastrukturpolitik (von der das Militär so gut wie nie betroffen war), Senkung der direkten Steuern, Privatisierungen.1973 beendeten die USA ihr unmittelbares militärisches Engagement in Vietnam. Zwei Jahre später nahmen sie die endgültige Niederlage des von ihnen installierten Regimes im Süden dieses Landes hin. Damit endete aber auch die einst von John F. Kennedy eingeleitete Zwischenphase, in der die USA an einer Entspannung in Europa interessiert waren, während sie die Systemauseinandersetzung in Südostasien forcierten. Nunmehr kehrten sie zur Konfrontation in Europa und zu verschärftem Wettrüsten zurück.1979 wurde Margaret Thatcher britische Premierministerin, 1981 Ronald Reagan US-Präsident. Sie setzten den wirtschafts- und außenpolitischen Kurswechsel energisch um. Dass ab 1981 unter dem Präsidenten François Mitterrand in Frankreich eine Koalition aus Kommunisten und Sozialisten Verstaatlichungen und umfangreiche Sozialreformen unternahm, wirkte dagegen schon wie aus der Zeit gefallen, zumal dieser Aufbruch bald an Grenzen stieß, die durch die mittlerweile immer mehr durch den Neoliberalismus diktierte weltwirtschaftliche Konstellation gezogen wurden. 1984 bestätigte das Scheitern der Mitte-links-Allianz in Frankreich die Alternativlosigkeit des neuen Kurses.„Pershing II“ und „Cruise Missiles“ in WesteuropaIn der Bundesrepublik wanderte das Wort „Wende“ in den politischen Wortschatz ein. Der Oppositionsführer Helmut Kohl propagierte diese allerdings nicht als eine ökonomische, sondern als eine „geistig-moralische“. Die FDP ersetzte die sozialliberale Rhetorik, zu der sie ein Jahrzehnt vorher übergegangen war, allmählich wieder durch eine wirtschaftsliberale. Ihre Koalition mit der SPD seit 1969 sah sie unter den neuen Bedingungen als eine Art Existenzbedrohung. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen geriet die Partei 1980 unter die Fünf-Prozent-Grenze. Im Bundeskabinett widersetzte sie sich allen Reformen, die dem von der Bundesbank vorgegebenen Gebot der Haushaltskonsolidierung zuwiderliefen.In dem Maße, in dem Kanzler Schmidt ihrem Druck nachgab, entfremdete er sich seiner Partei. Er war überzeugt, dass die SPD ohne die damals noch starken Gewerkschaften nicht regieren konnte, die jetzt allmählich auf Distanz gingen. Zwar war das von ihnen seit Jahrzehnten geforderte Gesetz über die Mitbestimmung in Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten auch außerhalb des Montanbereichs 1976 endlich beschlossen worden, aber es war für die Gewerkschaften eine Enttäuschung. Durch die Aufnahme von Vertretern der leitenden Angestellten auf die Arbeitnehmerbank war die Parität verwässert.Seit Konrad Adenauer galt, dass in der Bundesrepublik nur diejenige Partei den Regierungschef stellen konnte, die außenpolitisch mit den USA übereinstimmte. In seinem ersten Wahlkampf als Kanzlerkandidat 1961 hatte sich Willy Brandt als eine Art deutscher Kennedy vorgestellt. Seine neue Ostpolitik korrespondierte mit dem Kurs der Frontberuhigung in Europa. Jetzt, mit dem neuen Wettrüsten, stand eine weitere Justierung an. 1977 trat Helmut Schmidt in einem Vortrag vor dem Institut für Strategische Studien in London dafür ein, eine von ihm behauptete Überlegenheit der Sowjetunion in Europa durch neue Aufrüstung auszugleichen. Am 12. Dezember 1979 dann beschloss der NATO-Rat auf einer Tagung in Brüssel, dass vom Herbst 1983 an 108 US-amerikanische Mittelstreckenraketen vom Typ „Pershing II“ in der Bundesrepublik und 464 Marschflugkörper („Cruise Missiles“) in mehreren Ländern Westeuropas stationiert werden sollten.Die größte Friedensbewegung der BundesrepublikDarauf antwortete in den nächsten Jahren die größte Friedensbewegung, die es in der Bundesrepublik je gegeben hat. Ihr folgten große Teile der SPD und wandten sich damit gegen die Politik des von ihrer eigenen Partei gestellten Kanzlers.Schmidt war der Auffassung, Sozialreform sei nicht durch Umverteilung, sondern nur im Rahmen ständigen Wirtschaftswachstums möglich. Eine immer stärker werdende Umweltbewegung verwies auf ökologische Schäden, die dadurch entstanden. Dies führte 1980 zur Gründung der Partei der Grünen, die sich auch das Friedensthema zu eigen machte und rasch Zulauf erhielt. Die bisherige parlamentarische Monopolstellung der SPD links von der Mitte war bedroht. Oskar Lafontaine wurde zur Stimme einer innerparteilichen Opposition. Der Vorsitzende Willy Brandt fürchtete um die Einheit der SPD und versuchte, sie zusammenzuhalten, indem er flexibel nach links hin taktierte. Manchmal wurde dies als Absetzbewegung von Schmidt missverstanden, den er aber wohl eher stützen wollte, indem er die Organisation intakt hielt.1981: Konjunktureinbruch in DeutschlandDen letzten Stoß erhielt die sozialliberale Koalition durch einen Konjunktureinbruch. 1981 stagnierte das Wirtschaftswachstum. 1982 folgte eine Rezession mit einem Minus von etwa einem Prozent und steigender Arbeitslosigkeit. Die Union behauptete Regierungsversagen, Freie Demokraten gaben diesen Anwurf an die SPD weiter. Am 9. September 1982 legte der FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff ein Papier vor, das eine Kürzung des Arbeitslosengeldes, Umverteilungen in den Etats zu Lasten der ökonomisch Schwachen und der Lohnabhängigen, den Verzicht auf staatliche Ausgabenprogramme zur Beschäftigungsförderung und letztlich auch Lohnsenkungen forderte. Wenige Tage darauf, am 17. September 1982, traten die von der Freien Demokratischen Partei gestellten Bundesminister zurück. Helmut Schmidt bildete nun ein sozialdemokratisches Minderheitskabinett. Am 1. Oktober griffen CDU/CSU und FDP zum Mittel eines konstruktiven Misstrauensvotums gegen ihn und wählten Kohl zum Kanzler.Der setzte das Lambsdorff-Papier nicht um. Er fürchtete Verluste bei Wahlen nach abrupten sozialen Einschnitten. Mit der Abräumung des Staatseigentums in der ehemaligen DDR ab 1990 nahmen Privatisierungen auch im Westen Fahrt auf. Die Transferzahlungen in die neuen Bundesländer, mit denen die Wiedervereinigung sozialpolitisch abgepuffert wurde, passten nicht ins marktradikale Konzept vom schlanken Staat. Erst mit der rot-grünen Koalition zwischen 1998 und 2005 kamen dann aber die großen außen-, sozial- und wirtschaftspolitischen Tabubrüche. Die Bundesrepublik beteiligte sich am völkerrechtswidrigen Angriff der NATO auf Jugoslawien. Und im Vergleich zu den Wirkungen der Abrissbirne, mit der Schröders „Agenda 2010“ sowie die Hartz IV-Gesetze den Sozialstaat ramponierten, wirkte das Lambsdorff-Papier von 1982 wie eine schüchterne Häkelarbeit. Damit war die große Wende vollendet, deren Anfänge bis ins Jahr 1973 zurückgingen. Innerhalb dieses langen Zeitraums war der Kanzlersturz von 1982 eine eher unbeträchtliche Personalrochade.
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