Das ist kein Ostfilm!

Zeitgeschichte Ein Skinhead, eine Karrierefrau und ein Stasispitzel. Andreas Voigts Dokumentarfilm "Alles andere zeigt die Zeit" führt uns auch ein wichtiges Stück unserer selbst vor

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Das ist kein Ostfilm!

Bild: Dok Leipzig

Wir haben es geschafft. Die letzten beiden Jubiläumsjahre sind überstanden. Kaum ist der große Medienhype um den Fall der Mauer 89 und die Wiedervereinigung/Widervereinigung 90 passé, wiederholt sich vor unseren besorgten Augen ein ganz anderes Stück deutsche Geschichte.

Während man mancherorts längst nicht mehr auf "blühende Landschaften" wartet, wurden einige, die selbst Teil dieses Versprechen waren, vom Thron des "reichen Onkels" aus dem Westen gestoßen – Stichwort Brückenbau im Ruhrpott. Der Osten hat als dramatisches Thema aber längst nicht ausgedient. In Film und Fernsehen zeigen das Verfilmungen wie Andreas Dresens "Als wir träumten" und die immer aktueller werdende Retrospektive "Wir sind jung, wir sind stark" von Burhan Qurbani. Mehr noch, glaubt man einem Schreiber der ZEIT, so ist Fremdenfeindlichkeit die lokale Spezialität des Ostens. Doch welche Gründe soll man für diese zugleich feinfühlige und brandmarkende Beobachtung anführen? Arbeits- und Perspektivlosigkeit? Unflexibilität? Angst? Oder ist dieses Narrativ eigentlich nicht total bescheuert?

Für alle die sich nicht sofort von der Urlaubsstimmung des Hamburger Blatts anstecken lassen, bietet sich am Montag, den 25., und am Samstag, den 30. Januar, die Gelegenheit, dieser vermeintlichen Subspezies des Deutschtums aus nächster Nähe auf den Zahn zu fühlen. Denn das ist, was Andreas Voigts Film "Alles andere zeigt die Zeit" leistet; er stellt anhand seiner dokumentarischen Langzeitbetrachtung eine Verbindung zu Menschen, aber noch vielmehr zu menschlichen Schicksalen her, die altbewährte Klischees und Einordnungen auf den Kopf stellen. Vielmehr noch regt der Film die teils unangenehme Frage des "was-wäre-wenn-ich..." an.

Da ist Sven, der durchgehackte Sicherheitsmann mit Vorstrafen im Register und gescheiterter Soldatenlaufbahn in beiden deutschen Staaten. Über die gesamte Zeit will er einem nicht so recht in der Rolle als brutaler und gedankenloser Schläger gefallen. Links, rechts, links ... Gesinnungsfrage? Eher nicht. Völlig egal, möchte man meinen. Von Anfang an stehen bei ihm die Sorgen um den sozialen Zusammenhalt im Vordergrund. Der selbe, der '93 den wachsenden Egosimus des scheinbar westlichen Ellenbogensystems beklagt, sorgt sich fast 20 Jahre später in Vollzeit um seinen hilfebedürftigen Vater. Wie von selbst revidiert sich das Bild vom "Furor teutonicus" - dem deutschen Ungestüm – ein Schriftzug den er auf der Brust trägt, als die Kamera ein Bild von Vater und Sohn auf der Bank vor ihrem Haus erfasst. Am Ende des Films enttarnt er auf ganz subtile Art die Erwartungen und Ansprüche der Gesellschaft im Umbruch. Auf die Frage, wovon er denn noch so träumt und was er von der Zukunft erwartet, klingt das ernüchternde Credo "was sollen denn immer diese Träume?! Ich bleib erst mal beim Jetzt und alles andere zeigt die ..." wie eine weise Eingebung, geprägt von tiefer und wechselhafter Lebenserfahrung. In diesem Moment scheinen die Worte des ehemaligen Hooligan Sven denen des vor nicht all zu langer Zeit verschiedenen Landesvaters Helmut Schmidt ebenbürtig.

Das gegenteilige Bild liefert Isabell ab - die Ex-Punkerin auf Erfolgskurs. Bei ihr scheinen sich an irgendeiner Stelle der Traum von Selbstverwirklichung und glücklicher Zufall getroffen zu haben. Überaus überraschend, denn die selbe Person, die zu Wendezeiten keine weitere Perspektive in ihrem Leben gesehen hat, als "irgendwie durchs Leben zu kommen", wickelt nun im Wunderland der deutschen Wirtschaftskraft Insolvenverfahren von mittelständischen Betrieben ab. Das Sächsische ist längst dem Schwäbischen gewichen und aus der "Gruftzone" des Leipziger Arbeitsviertels Plagwitz ist eine Karrierefrau in Blazer und Ford Mustang geworden. Wer hätte das damals gedacht? Doch all zu eindeutig möchte das Glück der erfolgreichen self-made-Frau nicht zu den Betrachtern durchschimmern, zu sehr haftet ihr Glück an Gütern, die eine fühlbare Leerstelle in ihrem Leben ausfüllen sollen. Das Gefühl, mit dem schneeweißen PS-Monster über alle anderen auf der Autobahn zu dominieren, beflügelt sie, gibt ihr den Kick, den sie noch braucht.

Es sind diese beiden so konträren Charaktere, deren Lebenssituationen sich in den Wendejahren noch gar nicht so sehr von einander unterschieden haben, die einem nun rückblickend vor Augen führen, wie abhängig unsere Identitäten sind, von den äußeren Umständen und vom Glück. Voigts Langzeitbetrachtung dieser zwei Leben macht dies auf sensible Art und Weise deutlich. Wie oft gehen wir davon aus, dass die Stellung in unserem Leben nur all zu verdient ist? Und wie oft verurteilen wir all zu schnell andere für ihr scheinbar verpfuschtes Leben? Unterstrichen wird diese versteckte Botschaft (?) durch das Schicksal der einst enthusiatsischen Sozialistin Renate. Jene, die sich nach der Wende von ihr distanzierten und sie brandmarkten, hatten wohl auch wenig Interesse an den Umständen, unter denen sie in den Sog der Stasi gezogen wurde – zuerst bedroht und dann vergewaltigt. Sowohl die soziale Isolierung als auch ihr gebrochener Mut trieben Renate schließlich in den Freitod.

Voigts Porträt von Mensch und Zeit ist ein Lehrstück für eben jene, die gerne und allzu schnell den Finger auf andere zeigen. Denn wer auch nur ein wenig Empathie mit ins Kino bringt, dürfte von diesem Film sehr bewegt sein – weil sich der sehr intime Einblick, der sich dem Betrachter hier öffnet, die Urteile, die man ganz aus Gewohnheit über Menschen wie Sven, Isabell und Renate fällt, völlig durcheinanderwürfelt. Aber auch einfach nur für Film-versierte ist "Alles andere zeigt die Zeit" ein interessantes Dokumentarwerk, das nicht ohne Grund das 58. Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm im letzten Jahr eröffnete. Letztlich ist Voigts letzter Film aus dem sechsteiligen "Leipzig-Zyklus" ein wichtiger deutscher Film und schon gar kein "Ostfilm", wie auch Grit Lemke, Programmleiterin des DOK, meint.

INFO:

Im Zuge der Leipziger Kinopremiere zeigt die Schaubühne Lindenfels in Leipzig ab dem 26. Januar die Filme von Voigts "Leipzig-Zyklus" Alfred; Leipzig im Herbst; Letztes Jahr Titanic; Glaube, Liebe, Hoffnung; Große weite Welt; in denen unter anderem die besagten Protagonisten zu Wort kommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gérald Cordonnier

Identität? Schwindsüchtiger Gedanke! Was nicht ist das kann noch werden, und der Himmel auf Erden!

Gérald Cordonnier

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