Der Bahnhof von Löhne ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Einst war er ein zentraler Knotenpunkt im Nordwesten. Heute sind nur noch vier Bahnsteige in Betrieb und die übrigen, nutzlosen Gleise werden vom Unkraut überwuchert. Auch das Innere des Gebäudes bietet ein trostloses Bild. Vor einigen Jahren gründete sich in der ostwestfälischen Kleinstadt eine Bürgerinitiative, die der Verwahrlosung Einhalt gebieten will. Ihr Name hat eine hochmögende literarische Abkunft: „Löhne umsteigen“.
In Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues scheucht der Ausbilder Himmelstoß blutjunge Rekruten unter den Kasernentischen hindurch und treibt sie mit dem Ruf „In Löhne umsteigen!“ zur Eile an. Sie sollen lernen, den dortige
lernen, den dortigen Tunnel zu durchqueren, um rechtzeitig den nächsten Zug zu erreichen, der sie zur Front bringt. Dem im nahe gelegenen Osnabrück geborenen Schriftsteller war die strategische Bedeutung des Bahnhofs aus eigener Kriegserfahrung vertraut. Der Erfolg seines Romans sowie der Verfilmung von Lewis Milestone 1930 bescherten der Stadt mit dem Umlaut zu Beginn der 1930er Jahre kurzzeitig weltweite Berühmtheit.In Edward Bergers Neuverfilmung kommt die militärische Ausbildung der Hauptfigur Paul Bäumer und seiner Schicksalsgenossen nicht mehr vor. Die Rekruten werden, vom lodernen Patriotismus ihres Schulleiters angefeuert, unverzüglich in die Hölle der Westfront katapultiert. Der Film setzt 1917 ein, und sie alle sind kaum älter als das neue Jahrhundert. Gerade in den Schützengräben angekommen, erleben sie die Gräuel des Stellungskrieges hautnah mit. Das Sterben geht schnell und das Töten kann mühsam und entsetzlich sein. Die Stimmen der exzellenten Darsteller überschlagen sich, weil sie die Kommandolautsärke nicht gewohnt sind. Berger, dessen Berlinale-Beitrag Jack (2014) von einer verlorenen Kindheit handelte, erzählt nun von einer ganzen Generation, die verloren geht. Seine serienerprobte Regie, die Kameraführung von James Friend, die dräuende Filmmusik sowie das suggestive Sounddesign lassen ihre Feuertaufe zu einer immersiven Erfahrung werden. Effektiv setzen alle Gewerke das Rüstzeug ein, das seit Der Soldat James Ryan zum Inbegriff filmischen Kriegsrealismus geworden ist. Auch ihr Film soll um die Welt gehen.Dass die Netflix-Produktion mit neun Oscar-Nominierungen – und 14 für den britischen Filmpreis Bafta! – als zumindest numerischer Favorit in die Awards Season geht, hat hierzulande vorsichtige Genugtuung und international erhebliche Verblüffung ausgelöst.Das schreibt der „Guardian“ über „Im Westen nichts Neues“Die Los Angeles Times war bass erstaunt, dass ein „obscure WWI epic“ solcher Ehren würdig sein sollte. Der Londoner Guardian (dessen Chefkritiker den Film zwar schätzt, aber seine Landsleute ob dessen Aussichten bei den Baftas beschwichtigt) bestellte bei seinem Deutschlandkorrespondenten eine Presseschau, die eine angeblich einhellige Ablehnung des Films seitens der hiesigen Filmkritik ergab: Die Allianz des Unbehagens reiche von den Feuilletons der FAZ und SZ bis zur Bild-Zeitung; auch namhafte Militärhistoriker seien empört über die geschichtsverfälschenden Freiheiten, die sich das Drehbuch gegenüber der Vorlage nehme. Das Fremdeln mit diesem unverhofften Kandidaten ist groß.Die ersten beiden Verfilmungen des Romans setzten Maßstäbe für die Kriegsdarstellung in ihrem jeweiligen Medium: Milestones Adaption im frühen Tonfilm, Delbert Manns Version von 1979 im TV, wobei er entscheidend von der „realistischen“ Kameraführung John Coquillons profitierte, der zuvor Sam Peckinpahs Steiner – Das Eiserne Kreuz gedreht hatte. Beide Adaptionen wurden mehrfach ausgezeichnet – der erste Film erhielt 1930 den Oscar für die Beste Regie und als „Herausragende Produktion des Jahres“; die Fernsehfassung gewann einen Golden Globe und einen Emmy. Sie wurde 1979 auch als Allegorie auf den Vietnamkrieg gefeiert.Eingebetteter MedieninhaltGegen Milestones Film gab es massive Proteste von Nationalsozialisten und Veteranenverbänden, die sich am illusionslosen Bild störten, das er vom Krieg entwirft: Es gibt keinen Heldenmut in ihm, allenfalls Kameradschaft, seine Vision ist geprägt von Trauma und Scham. Die dramatische, wechselhafte Zensurgeschichte des Films (auch in europäischen Nachbarländern) wird eindrücklich im Wikipedia-Eintrag sowie auf der Remarque-Seite der Universität Osnabrück skizziert.Bergers Version ist die erste deutsche Adaption des Stoffes. Sie gehört keinem der Genres (Komödie, Kinderfilm, Geschichten aus der NS-Zeit) an, die üblicherweise in deutschen Kinos gut funktionieren und von denen sowieso nur letzteres exportfähig ist. Verkaufte Eintrittskarten sind jedoch für Netflix sowieso von nachrangiger Bedeutung; hohe Streaming-Aufrufzahlen haben Im Westen nicht Neues auf Platz 3 der erfolgreichsten nicht-englischsprachigen Produktionen der Firma gesetzt.Dieser „ausländische“ Film ist nun der einzige ernsthafte Wettbewerber, den eine Streamingplattform ins diesjährige Oscar-Rennen schickt. Immerhin vermittelt er als Antikriegsfilm und Anklage des Nationalismus eine universelle Botschaft, zudem in einem Produktionsstandard, der amerikanischen Ansprüchen eifrig genügt.Bergers Film nimmt Remarques Buch vor allem als Markenzeichen, über das er freizügig verfügt. Einige Motive variiert er geschickt. An die Stelle der begehrten Stiefel eines Soldaten, die entsprechend oft ihre Besitzer wechseln, setzt er die Uniformen der Gefallenen, die industriell wiederaufbereitet werden. Die Neuverfilmung hat ein durchaus remarquesches Gespür für das Zyklische des Kriegsgeschehens. Sie bemüht sich, auf ganz andere Weise als ihre Vorgänger, um eine Dosierung des Grauens. Zentral für Milestone und Mann war Pauls Heimaturlaub, der ganz im Zeichen der Entfremdung steht. Im Fernsehfilm geschah dies besonders pointiert, da Paul von Richard Thomas gespielt wird, der dem Publikum als sensibler John-Boy aus Die Waltons vertraut war und dessen Image sich mit einem warmen, familiären Zusammenhalt und einem Versprechen auf die Zukunft verband. Statt dieser Beschwörung des unmöglichen Heimkommens setzt das neue Drehbuch eine Ellipse. Es überspringt brüsk anderthalb Jahre und bringt das Publikum so um die Erfahrung der Eingewöhnung, die die Rekruten von Überlebenden in Tötungsmaschinen verwandelt.Nicht mehr lässlich, sondern nachgerade verheerend wird es, als der Film das Schlachtfeld verlässt und seiner Handlung eine geopolitische Ebene einzieht. Im November 1918 treten die Verhandlungen über einen Waffenstillstand auf den Plan, bei denen der demütige Pazifist Matthias Erzberger (Daniel Brühl) auf einen eisigen Marschall Foch (Thibault de Montalembert) trifft. Der Dolchstoßlegende redet der Film hier zwar nicht das Wort, aber in der sarkastischen Parallelmontage mit dem Grauen an der Front gerät er unfassbar holzschnittartig. Derweil bleibt die Oberste Heeresleitung unbelehrbar. Sie schickt Paul und seine Kameraden unmittelbar vor Kriegsende in ein letztes Gefecht. Die verzweifelte Ironie von Remarques Romantitel – Paul wird von einem französischen Scharfschützen getötet, aber der Tagesbericht spricht von einem ruhigen Tag an der Westfront – wird von dieser grimmigen Schlussvolte schlicht verraten.