Eine kurze Geschichte des Lockdowns

Covid-19 Den Zeitreihen positiver SARS-Cov-2-Tests sieht man nicht an, ob und wann die Politik eingegriffen hat.

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Lockdowns und andere schwere Einschränkungen der Grundrechte werden gern damit begründet, dass sie der Epidemiebekämpfung dienen und dadurch Leben retten. Wenn dem so ist, so müssen diese Maßnahmen zunächst einmal einen deutlich sichtbaren Einfluss auf die Zahl der Neuinfektionen und damit auf die Reproduktionszahl haben. Zumindest bei einer nahezu konstanten Zahl von SARS-Cov2-Tests und gleichbleibender Teststrategie muss sich das am zeitlichen Verlauf der Zahl positiver Tests ablesen lassen. Diese beiden Voraussetzungen waren ganz am Anfang der Epidemie vor einem Jahr nicht gegeben und dann noch einmal nicht von Juni bis etwa Mitte Juli. Um den Höhepunkt der ersten Welle herum - etwa Anfang April - und in der zweiten Welle ab etwa Mitte Oktober trafen sie in guter Näherung zu. Wir können daher überprüfen, ob die Lockdowns einen vorteilhaften Effekt hatten, der die Schwere der Eingriffe rechtfertigt.

Haltet die Methodik einfach

Viele wissenschaftliche Studien zu Covid-19 verwenden eine komplexe Methodik, die in einem merkwürdigen Missverhältnis zu den einfachen Handlungsanweisungen steht, die aus den Ergebnissen abgeleitet werden. Geht man den Studien nach, so findet man oft viel Fachjargon, nicht explizit deklarierte Annahmen und sehr spezielle statistische Methoden. Schon Wissenschaftler, die nicht genau aus diesem Spezialgebiet stammen, können das nicht mit vernünftigem Zeitaufwand nachvollziehen. Politiker können es glauben oder eben nicht – und jeder erfahrene Politiker entscheidet sich in dieser Situation dafür, genau den Teil zu glauben, der das stützt, was er oder sie sowieso tun will.

Dabei geht es um sehr grundsätzliche politische Entscheidungen, die wiederum sehr große, in der Regel schädliche Auswirkungen in anderen Gebieten haben. Es kann für solche Entscheidungen nicht darauf ankommen, ob irgendein spezielles Werkzeug der Statistik unter einigen unsicheren Annahmen kleine Effekte der einen oder anderen Maßnahme nahelegt. Wenn man einen erheblichen Rückgang der Krebs- und Herzkrankheitsdiagnosen und einen erheblichen Rückgang der Wirtschaftsleistung in Kauf nimmt, wobei Letzteres in der Zukunft weniger Ressourcen für Gesundheitswesen und Altenpflege bedeutet, dann müssen die vorteilhaften Effekte groß sein und ins Auge fallen. Dann kann man sie mit einer einfachen, verständlichen Methodik finden – oder eben nicht.

Hier verwende ich die von der Johns Hopkins University gesammelten Daten zur gemeldeten Zahl positiver SARS-Cov2-Tests. Momentan scheint das die einzige Institution zu sein, die international noch tagesgenau Daten sammelt. Schon in der ersten Welle gab es im Wochenverlauf deutliche Schwankungen der Testzahlen, die schwer zur behaupteten Dramatik der Situation passten. Immerhin waren die Unregelmäßigkeiten damals auf das Wochenende und den Montag beschränkt. Inzwischen gibt es in den meisten europäischen Ländern einen seltsamen Gang der Zahlen, der sich jede Woche wiederholt und der inkonsistent mit dem Anspruch ist, möglichst schnell herausfinden zu wollen, ob jemand infiziert ist oder nicht. Hier stört uns das allerdings wenig, weil wir mit dem gleitenden 7-Tages-Mittel auskommen, das zudem die Daten glättet, ohne die Effekte zu verwischen. Wie die linken Grafiken in Abbildung 1 zeigen, weist das 7-Tages-Mittel einen regulären Verlauf auf.

Die Zeitpunkte, an denen größere Maßnahmepakete in Kraft traten, identifiziere ich mit dem Oxford Stringency Index der Blavatnik School of Government (mittlere Grafiken in Abbildung 1). Ich denke nicht, dass dieser Index in der zweiten Welle noch hinreichend genau ist, um die Effizienz von Maßnahmen zu untersuchen. Dazu sind die Unterindices nicht fein genug. So wird zum Beispiel der Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland bezüglich der Hotelschließungen für touristische Zwecke nicht abgebildet. Auch das macht hier aber nichts aus, weil ich dem Index lediglich den Tag entnehme, an dem die politischen Rahmenbedingungen drastisch verändert wurden (rote senkrechte Linien). Das leistet er immer noch.

Das vorletzte Konzept, das wir benötigen, ist die Logarithmierung des 7-Tage-Mittels der Zahl positiver Tests. Dahinter stecken wiederum das Konzept des „exponentiellen Anstiegs“, von dem inzwischen jeder gehört haben dürfte, und dasjenige der effektiven Reproduktionszahl R. Auch diese ist einfach. Wenn R = 1.4 ist, dann stecken 10 Infizierte 14 weitere Personen an. Liegt R über 1 und ist konstant, so steigt die Zahl der Infizierten exponentiell an, liegt R unter 1 und ist konstant, so fällt sie exponentiell ab. In den logarithmierten Daten werden nun aus dem exponentiellen Anstieg und Abfall ein linearer Anstieg und Abfall, die wesentlich leichter zu erkennen sind. Vor allem sieht man so auf einen Blick, ob sich die effektive Reproduktionszahl geändert hat. Das ist hier wichtig, denn das Ziel der Maßnahmen ist ja gerade eine Verringerung von R. Die logarithmierten Daten wirken auch noch einmal etwas glatter (dunkelgraue Punkte in den rechten Grafiken in Abbildung 1).

Das letzte Konzept ist dasjenige einer verzögerten Wirkung der Maßnahmen. Angenommen, heute treten Maßnahmen in Kraft, an die sich ein substantieller Teil der Bevölkerung auch hält und dadurch sinkt ab heute die Zahl der Neuinfektionen. Ehe man bemerkt, dass weniger Leute Symptome haben, muss die Inkubationszeit vergehen. Zusätzlich braucht es noch etwas Zeit, bis jemand, der Symptome hat, auch getestet wird und schließlich etwas Zeit, bis das Ergebnis vorliegt und gemeldet wird (hier spielt die Wochenendverzögerung eine nicht unerhebliche Rolle). Die Zeiten weisen alle eine gewisse Verteilungsbreite auf. Insgesamt kann man kaum erwarten, dass der Effekt der Maßnahmen eher als nach 10 Tagen eintritt. Andererseits kann er aber auch nicht sehr stark verzögert sein. Ich nehme hier an, dass man spätestens nach 18 Tagen etwas sehen sollte. Den Zeitraum zwischen 10 und 18 Tagen nach Inkrafttreten der Maßnahmen bezeichne ich als „Effektfenster“. In den rechten Grafiken in Abbildung 1 sind die Effektfenster grün gekennzeichnet.

Wie Sie sehen, sehen Sie nichts

Bei der Betrachtung der rechten Grafiken in Abbildung 1 fällt zunächst auf, dass in Deutschland und der Schweiz drastische Maßnahmen erst ergriffen wurden, als das exponentielle Wachstum bereits ohne solche Maßnahmen gebrochen war (die grauen Punkte lagen schon deutlich unter der blauen Linie). Das trifft auf ganz Europa zu. Wir können daher nicht ausschließen, dass sehr schnelle und sehr drastische Maßnahmen am Anfang eine landesweite bzw. europaweite Epidemie hätten verhindern können – das hat in China und Australien funktioniert. Wir betrachten hier nur eine Situation, in der es nicht mehr um lokale Herde geht, die bei guter Organisation abgeriegelt und von außen versorgt werden können, sondern in der das Virus bereits in der Fläche verbreitet ist.

Nach dem Frühjahrslockdown in Deutschland sank die Reproduktionszahl R zunächst weiter, bevor das ein Effekt des Lockdowns sein konnte. Der zeitliche Verlauf erreichte sein Maximum (R = 1) am zweiten Tag des Effektfensters, in der Schweiz zwei Tage vor Beginn des Effektfensters. Oberflächlich betrachtet könnte man nun annehmen, dass der Lockdown den nachfolgenden Abfall verursacht oder verstärkt hat. Das ist aus folgendem Grund unwahrscheinlich. Wenn wir nicht wüssten, ob und wann es einen Eingriff gegeben hat, würden wir bei Betrachtung der Daten allein keinen vermuten. Der Gang sieht ganz natürlich für eine Infektionswelle aus, bei der nicht eingegriffen wurde. Auf diesen Punkt komme ich unten am Beispiel Irlands zurück. Auch anhand des weiteren Verlaufs der Epidemie ist die wahrscheinlichste Erklärung für den zeitlichen Verlauf im Frühjahr ein Abebben der Epidemie durch verbesserte Witterungsbedingunge. Dieses Abebben hatte schon vor Inkrafttreten der Maßnahmen mit einer sinkenden Reproduktionszahl eingesetzt und setzte sich danach praktisch unbeeinflusst fort. Dem entspricht auch die Beobachtung, dass sich der Abfall von R dann noch einmal beschleunigte, aber deutlich nach Ende des Effektfensters.

Die inzwischen als „Lockdown light“ apostrophierten Maßnahmen, die in Deutschland im Oktober ergriffen wurden, führten innerhalb ihres Effektfensters zu Nichts. Es gab vor Beginn bis kurz nach Ende des Effektfensters einen exponentiellen Anstieg der Zahl positiver Tests (linearer Anstieg in den logarithmierten Daten). Dieser exponentielle Anstieg war allerdings sehr deutlich langsamer als im Frühjahr. Freunde von Maßnahmepaketen werden bemerken, dass bald nach dem Effektfenster der zeitliche Verlauf in ein Plateau überging (R von etwa 1). Schaut man allerdings auf die Schweiz, so traten dort die Maßnahmen ganz knapp vor dem Höhepunkt der Welle in Kraft. Das Effektfenster fällt hier in eine Periode exponentiellen Abfalls und auch hier ändert sich im Effektfenster nichts an der Reproduktionszahl. Einige Tage nach dem Effektfenster geht der zeitliche Verlauf auch hier in ein Plateau über, was in der Schweiz aber ein schlechtes Ergebnis ist, weil es einen Anstieg von R bedeutet. Die plausibelste Erklärung ist wiederum, dass die Maßnahmepakete in beiden Ländern keinen sichtbaren Effekt hatten.

Bezüglich des schärferen Leopoldina-Lockdowns in Deutschland, den ich so bezeichne, weil er mit einem Papier der Leopoldina begründet wurde, stehen die Dinge nicht besser. Das Effektfenster fällt hier in einen zeitlichen Bereich, in dem die Zahl positiver Tests bereits fiel, an der Rate des Abfalls änderte sich wiederum nichts. Kurz nach dem Effektfenster gab es einen kurzen Wiederanstieg, vermutlich durch nach Weihnachten und dem Jahreswechsel nachgemeldete Tests, ehe wieder die gleiche Abfallrate einsetzte, die schon vor dem Effektfenster zu beobachten war. Diese Abfallrate ist übrigens leicht geringer als in der Schweiz, wo der Lockdown weniger scharf ist.

Ausgerechnet Irland

Da die Betrachtung der Daten für Deutschland und die Schweiz noch etwas Raum für Spekulationen ließ, betrachte ich noch ein Land. Ich wähle Irland. Warum gerade Irland, das ist ja nun wirklich nicht der naheliegendste Vergleich zu Deutschland oder der Schweiz? Diese Frage habe ich mir auch selbst schon gestellt, als die Leopoldina ihr scharfes Verlangen nach einem schärferen Lockdown im Dezember mit dem Beispiel Irlands begründete. Genau das ist nun mein Grund, ebenfalls Irland zu betrachten. Es stellt sich nämlich die Frage, on Irland tatsächlich ein Beispiel für die Wirksamkeit von Lockdowns ist.

Wir beginnen im Frühjahr (Abbildung 2). Es ist zunächst das gewohnte Bild. Der exponentielle Anstieg war bereits gebrochen, bevor die drastischen Maßnahmen in Kraft traten. Hier fällt nun aber gerade in das Effektfenster der Maßnahmen ein kurzzeitiger stärkerer Anstieg der Zahl positiver Tests, also eine erhöhte Reproduktionszahl. Das ist Pech. Ich behaupte keineswegs, dass die Maßnahmen diesen Anstieg verursacht haben. Wir finden hier nur eine Korrelation, die keine Kausation sein muss und aller Wahrscheinlichkeit nach auch keine ist, weil man diesen Effekt in anderen Fällen ja nicht sieht.

Irland hatte, uncharakteristischerweise, eine deutliche Verschärfung der Maßnahmen im August, die ziemlich unmotiviert wirkt, weil die absolute Zahl positiver Tests damals nicht nennenswert war. Gebracht hat sie – Nichts. Vor dem Effektfenster und im Effektfenster lag R konstant bei etwa 1. Gegen Ende des Effektfensters begann ein exponentieller Anstieg, obwohl die Maßnahmen noch in Kraft waren. Sie wurden dann zum Teil zurückgenommen – in der Phase des exponentiellen Anstiegs und bei höheren absoluten Zahlen positiver Tests als bei ihrer Inkraftsetzung.

Der uns von der Leopoldina als Beispiel vor Augen gehaltene Lockdown in Irland ist derjenige von Ende Oktober. Er trat auf dem Höhepunkt der Herbstwelle in Kraft. Der exponentielle Abfall setzte ein, bevor er ein Effekt des Lockdowns sein konnte und auch hier änderte sich während des Effektfensters R nicht. Später kam es zu einer Winterwelle (wohl besser Weihnachtswelle) bei anhaltend recht drastischen Maßnahmen. Diese Welle wurde nicht von der britischen Mutante verursacht.

„Es muss doch aber funktionieren“

Solche eigentlich klaren Befunde stoßen oft auf Unglauben nach dem Schema, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Lockdowns müssen doch ganz einfach wirken, weil sie die Zahl der Kontakte verringern. Diese Behauptung lässt sich offenbar immer noch – gegen jeden Augenschein – einer Bevölkerungsmehrheit verkaufen, was bei dem Aufwand an Propaganda nicht unbedingt erstaunt. Erstaunlich ist hingegen, dass auch Wissenschaftler nach diesem Schema argumentieren. Die triviale Form des Arguments – und ich habe das intelligente Leute so sagen gehört und es haben intelligente Leute Modelrechnungen auf dieser Basis herumgereicht – ist diese.

„Es ist doch ganz einfach. Wenn wir die Zahl der Kontakte um 80% verringern, sinkt die Reproduktionszahl um 80%.“

Nein.

Das träfe nur dann zu, wenn alle Kontakte die gleiche Übertragungswahrscheinlichkeit von Covid-19 aufweisen würden. Tatsächlich unterscheidet sich diese aber zwischen verschiedenen Kontaktformen um Größenordnungen. Wenn man die Kontakte mit sehr geringer Übetragungswahrscheinlichkeit – und das sind die meisten – drastisch verringert, ändert sich der Epidemieverlauf nicht merklich. Es kann sogar kontraproduktiv sein, weil Menschen soziale Wesen sind und die verlorengegangenen Kontakte mit geringer Übertragungswahrscheinlichkeit ersetzen – wodurch wohl?

Das ist weniger abstrakt als es klingt. Es ist bekannt und wenig verwunderlich, dass die meisten Infektionsübertragungen zwischen Personen stattfinden, die im gleichen Haushalt leben. Dort sind die Kontakte halt am engsten und häufig. Natürlich muss das Virus auch zwischen Haushalten springen. Mit wem haben Menschen, außerhalb ihres eigenen Haushalts die engsten Kontakte, also diejenigen mit der höchsten Übertragungswahrscheinlichkeit? Mit einer kleinen Zahl von Freunden, die man daher enge Freunde nennt. Ach, und der nette Nachbar hat gerade ein paar Stück Geburtstagskuchen vorbeigebracht, weil wir ja nicht zusammen feiern dürfen. Und so weiter und so fort. Haben Sie schon mal Menschen beobachtet, so richtig?

Nach einem Jahr Epidemie, einer Epidemie, bei der so viele Daten erfasst wurden wie bei keiner sonst, in einer Zeit, in der wir spielend Korrelationen in riesigen Datensätzen auffinden können, in der fast niemand mehr über etwas Anderes redet als genau diese Epidemie, haben wir keine Ahnung, was nun die Hauptwege sind, über die sich das Virus zwischen Haushalten verbreitet. Ich warte immer noch auf denjenigen oder diejenige, die mir überzeugend erklären können, warum Institutionen wie das Robert-Koch-Institut diese Frage nicht seriös untersucht haben.

So lange wir aber dieses Wissen nicht haben, haben wir keine Ahnung, wie wir effektiv die Reproduktionszahl senken können und ob es dafür überhaupt einen praktikablen Weg gibt. Das ist nämlich nicht ausgemacht.

Die Illusion der Kontrolle

Die Attraktivität von Lockdowns liegt, besonders in den Augen von Politikern, in der Illusion man könne darüber den Epidemieverlauf beeinflussen, man habe einen Weg, die Dinge unter Kontrolle zu halten. Es gibt aber Phänomene, die man nicht unter Kontrolle halten kann. Wenn dem so ist, setzt man seine Ressourcen am Besten nicht für unwirksame Kontrollversuche ein, sondern dafür, mit der Situation bestmöglich umzugehen. Wenn man ein paar Milliarden statt in Finanzhilfen für Ladengeschäfte, Restaurants und Künstler in die Verbesserung der Infrastruktur, des Personalbestands und der Arbeitsbedingungen in Alten- und Pflegeheimen steckt, wird das sehr wahrscheinlich mehr Menschleben retten. Man kann damit freilich keine anderen politischen Vorstellungen umsetzen als nur genau das.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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