Gibt es alternative Fakten?

Politikmedienpolitik Intellektuelle Unredlichkeit auf beiden Seiten ist das hervorstechende Merkmal aktueller politischer Diskurse.

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Unter intelligenten Leuten ist es derzeit Usus, sich über den Begriff „alternative Fakten“ lustig zu machen. Ich gebe gern zu, dass auch ich nicht davon frei war. Denkt man allerdings tiefer darüber nach, so erkennt man, dass sich diejenigen lächerlich machen, welche die Existenz alternativer Fakten auf dem Gebiet der Propaganda bestreiten.

Kleine Mengenlehre der Propaganda

Betrachten wir die Situation, in der Lager A Propaganda und Lager B Gegenpropaganda betreibt. Für erstaunlich viele der gegenwärtigen politischen Diskurse ist das eine gute Näherung. Lager A wird zur Stützung seines Narrativs einen Menge a von Fakten anbringen. Diese Menge wird in aller Regel nicht alle relevanten Fakten umfassen (ich werde weiter unten ein aktuelles Beispiel diskutieren). Lager B wird sein andersartiges Narrativ mit einer Menge b von Fakten stützen, die auch wiederum nicht alle relevanten Fakten enthält. In der Regel wird auch die Schnittmenge s = ab nicht leer sein, wodurch man überhaupt erst erkennen kann, dass beide Lager den gleichen Sachverhalt diskutieren. Diese Schnittmenge besteht aus der Menge n der neutralen Fakten, die keines der beiden Narrative stärker stützen als das andere, und der Menge o der offensichtlichen Fakten, deren Unterschlagung die Propaganda unglaubwürdig machen würde.

Wir können nun je eine Menge der exklusiven Fakten für die Narrative von A (aex = a \ b, also alle Fakten, die in a, aber nicht in b enthalten sind) und B (bex = b \ a) definieren. Wenn A den Sachverhalt zuerst in die öffentliche Diskussion einbringt, ist der Öffentlichkeit die Menge a von Fakten bekannt. Nun meldet sich B zu Wort und bringt die Menge bex von alternativen Fakten in die Diskussion ein.

In dieser etwas idealisierten Darstellung hat weder Lager A noch Lager B gelogen, also irgendeine falsche Tatsachenbehauptung aufgestellt. Beide Lager haben jedoch die Darstellung verzerrt, indem sie bewusst diejenigen Fakten unterschlagen haben, die ihr eigenes Narrativ nicht unterstützen oder diesem sogar zuwiderlaufen. Diese Verzerrung ist das Wesen von Propaganda. Dasjenige Lager, das die eigenen Fakten bex als „alternative Fakten“ apostrophiert, ist in dieser Situation sogar das ehrlichere, denn es hat damit implizit zugegeben, dass Propaganda durch eine Auswahl von Fakten betrieben wird. Dieses Lager hat nicht behauptet, dass die Faktenmenge a falsch, sondern nur, dass sie unvollständig war.

Der Fall Yücel

Die abstrakte Mengenlehre wird vermutlich etwas verständlicher, wenn wir ein aktuelles Beispiel im Detail betrachten. Am 14. Februar stellte sich der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, nach dem gefahndet wurde, auf dem Polizeipräsidium Istanbul und wurde in Gewahrsam genommen. Am 27. Februar entschied ein Haftrichter, Untersuchungshaft zu verhängen.

In praktisch allen deutschen Medien wird das Narrativ A dargeboten. Danach zeige der Fall Yücel einmal mehr, dass der türkische Präsident Erdoğan kritische Journalisten mit den Mitteln der Justiz mundtot mache. Als Beispiel mag die Berichterstattung der ARD-Tagesschau am 28. Februar dienen. Die einzige Meinung, die hier erwähnt wird und dem Narrativ der Gegenseite zuzurechnen ist, ist diejenige des Vorsitzenden des parlamentarischen Menschenrechtsausschusses des türkischen Parlaments, Mustafa Yeneroğlu (von Erdoğans Partei AKP). Yeneroğlubezeichnete Yücel als eher einen Aktivisten denn einen Journalisten. Diese Einschätzung scheint mir durch einen Freitag-Artikel von Christian Füller, der Yücel kennt, einigermaßen gedeckt. Yeneroğlu hatte allerdings auch - nach eigenen Angaben ohne Kenntnis der Details - gesagt, dass er die Verhaftung kritisch sehe. Daraus machte die F.A.Z. dann eine Internet-Seite mit dem Titel „AKP kritisiert die Verhaftung von Deniz Yücel“ (erscheint so bei Suchmaschinen). Hier handelt es sich schon nicht mehr um Faktenselektion sondern um Lüge (neudeutsch „Fake News“). Die AKP als Partei hat mitnichten die Verhaftung kritisiert. Die eigentliche Artikelüberschrift lautet dann auch schon anders (AKP-Abgeordneter Yeneroglu sieht U-Haft „kritisch“) und selbst das ist immer noch eine erhebliche Verzerrung des Gesamtinhalts des Artikels, wie leicht nachgeprüft werden kann.

Zur Menge n der neutralen Fakten gehört hier, dass Yücel verhaftet wurde und nun in Untersuchungshaft sitzt. Ein offensichtlicher Fakt ist, dass er für Die Welt aus der Türkei berichtete (dieser Fakt erscheint nur scheinbar als neutral). Zu der Faktenmenge aex gehört, dass in der Türkei derzeit mehr als 150 Journalisten in Haft sitzen. Das wird von Vertretern des in der Türkei vorherrschenden Narrativs B kaum erwähnt werden.

Interessant ist nun, ob es eine Menge von relevanten Fakten bex gibt, die in deutschen Medien unterschlagen werden, weil sie Narrativ A nicht stützen. Ursprünglich dachte ich, dass dazu der Fakt gehört, dass Yücel in der Türkei gar nicht als Journalist akkreditiert war. Das allerdings stand ursprünglich auf der News-Seite der Welt zu diesem Fall (Suchmaschinen finden noch den Satz: „Die Regierung hatte ihm eine Akkreditierung verweigert.“), die Information wurde nur inzwischen aus dem Artikel entfernt. Auch der Hinweis auf das Interview von Yücel mit der Nummer 2 der Terrororganisation PKK, Cemil Bayik, vom 23.8.2015 fehlt zumeist. In diesem Interview behauptet übrigens Bayik selbst, dass es die in deutschen Medien bestrittene oder unterschlagene Verbindung zwischen PKK und der Kurdenpartei HDP gibt. Das ist ein weiterer Fakt aus der Menge bex.

Allerdings habe ich eine einigermaßen ausgewogene (wenn auch unvollständige) Darstellung des Falles in einem Leitmedium gefunden, vom 1. März im online-Auftritt des Wochenblatts Die Zeit. Dort finden sich Yücels Satz: „Der baldige Abgang der Deutschen aber ist Völkersterben von seiner schönsten Seite." und der Hinweis, eine Kolumne, in der Yücel Thilo Sarrazin einen Schlaganfall gewünscht habe, hätte die taz damals eine empfindliche Entschädigung gekostet. Auch der Wechsel Yücels von der taz zur Welt, die seine Tendenz ja wohl vor der Anstellung kannte, zu einem Zeitpunkt, als westliche Leitmedien sich auf Erdoğan einzuschießen begannen, ist ein alternativer Fakt, der zu denken gibt.

Was wir in diesem Zusammenhang aus deutschen Mainstream-Medien mit großer Verbreitung gar nicht erfahren haben (nach meiner Suche jedenfalls) ist, was nun genau Yücel vorgeworfen wird. Fündig wurde ich bei dem nicht so klassischen Portal MEEDIA in einer eindeutig sachlicheren und umfassenderen Darstellung als in deutschen Leitmedien. MEEDIA gehört zur Verlagsgruppe Handelsblatt, die Eigentum der Dieter von Holtzbrinck Medien GmbH ist. Das Portal ist also keineswegs zur Gegenöffentlichkeit zu rechnen. Yücel wird vorgeworfen, er gehöre zum RedHack-Konsortium, das private E-Mails des türkischen Energieministers und Erdoğan–Schwiegersohns Berat Albayrak ausspioniert hat. Yücel gehört zu den Journalisten, die solche E-Mails veröffentlicht haben (Fakt aus der Menge bex).

Deutsche Medien haben gern den Fakt aus der Menge a wiedergegeben, dass sich Yücel ja freiwillig gestellt habe, nicht aber den alternativen Fakt, dass mindestens seit Ende Dezember nach ihm gefahndet wurde (die türkische Zeitung Sabah berichtete das) und er sich erst am 14. Februar stellte.

Nach MEEDIA (und der türkischen Regierung) hielt sich Yücel über Wochen im deutschen Konsulat auf, während nach ihm gefahndet wurde. Ich kann das nicht unabhängig verifizieren, halte es aber für sehr plausibel (Deutschland hat nicht dementiert) und es ist wieder ein Fakt aus der Menge bex. Wäre ich türkischer Außenminister, dann hätte ich in so einem Fall auch den deutschen Botschafter einbestellt.

Fassen wir zusammen. Yücel hat ohne Akkreditierung in seiner Eigenschaft als türkischer Staatsbürger für Die Welt aus der Türkei berichtet. Dabei hat er widerrechtlich erlangte E-Mails veröffentlicht. Es wird derzeit untersucht, ob er an der widerrechtlichen Erlangung beteiligt war oder zu dieser angestiftet hat. Es ist schwer auszuschließen, dass Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr besteht, zumal Yücel einen zweiten Pass hat und das deutsche Konsulat ihn über Wochen vor einer laufenden Fahndung versteckt zu haben scheint. Nachdem wir die alternativen Fakten kennen, stellt sich der Fall Yücel ganz anders dar als in den deutschen Mainstream-Medien.

Dieser Fall ist relativ einfach zu diskutieren, weil ich die Grundidee des Narrativs A sogar für richtig halte. Erdoğan versucht, kritische Journalisten mundtot zu machen, um ein Referendum zu gewinnen und die Gewaltenteilung in der Türkei einzuschränken. Ich bin dagegen, wenn ich auch finde, dass die deutschen Mainstream-Medien wenig Enthusiasmus für Gewaltenteilung und Pressefreiheit in der Türkei an den Tag gelegt haben, solange diese noch ein verlässlicher Bündnispartner des Westens war. Mein Hauptpunkt ist hier ein anderer. Der Fall Yücel ist ungeeignet, um Narrativ A zu stützen. Die Mainstream-Medien betreiben hier Propaganda.

Die Propaganda in den Zeiten des Aufregungsjournalismus

Nun ist Propaganda nichts Neues. Ich bin in Zeiten des Kalten Krieges aufgewachsen. Jedem einigermaßen reflektierten DDR-Bürger war klar, dass beide Seiten jeweils nur einen Teil der Fakten berichteten. Um informiert zu sein, musste man Westfernsehen gucken oder wenigstens Westradio hören. Man war aber auch nicht informiert, wenn man für bare Münze nahm, was dort verbreitet wurde. Die Darstellung des Ostblocks musste man auch kennen.

Solches Wissen über das Wesen der Propaganda war übrigens in der BRD sehr viel weniger verbreitet, wie ich nach der Wende feststellen musste. Obwohl das Vertrauen in westliche Mainstream-Medien inzwischen auch in den alten Bundesländern stark abgenommen hat, gibt es auf diesem Gebiet immer noch einen Unterschied zu den neuen Bundesländern.

Insgesamt waren die westlichen Medien damals doch noch weniger einförmig als heute. Es gab das Konzept des Qualitätsjournalismus mit einer strikten Trennung von Fakten und Meinung, das in dieser Form eigentlich aus dem anglo-amerikanischen Raum kommt. Die beste deutsche Formulierung ist: "sich [als Journalist] nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten" (Hans Joachim Friedrichs). Idealerweise versucht ein Journalist eines Qualitätsmediums, so objektiv und umfassend wie möglich zu recherchieren und am Anfang des Artikels alle als relevant erkannten Fakten wiederzugeben. Im zweiten Teil des Artikels legt er dann seine Meinung dar, die in der Regel eine Interpretation der gesamten Faktenbasis im Rahmen eines Narrativs ist, das der redaktionellen Linie des Mediums entspricht. Dieser zweite Teil kann auch fehlen und durch einen abgesetzten Kommentar eines anderen Journalisten ersetzt werden, der reiner Meinungsjournalismus ist. Die Trennung in Artikel und Kommentar erleichtert es, ein Narrativ zu vertreten, das ein objektiver Betrachter bei Kenntnis der gesamten Faktenbasis für hanebüchen halten würde.

Qualitätsjournalismus dieser Art war immer nur ein Ideal. Am Nächsten kam dem auf dem Gebiet weltpolitischer Fragen in den 1990er Jahren The Economist aus Großbritannien. Obwohl auch dort die Standards etwas nachgelassen zu haben scheinen, machen aktuelle Ausgaben und der Online-Auftritt immer noch einen wesentlich besseren Eindruck als die Erzeugnisse anderer Mainstream-Medien.

Was nun die Medienlandschaft der BRD betrifft, so kenne ich diese in ihrer graubunten Gesamtheit erst seit 1990. Seitdem gab es immer wieder Themen, bei denen sehr vielen Propagandabeiträgen sehr wenig oder gar kein Qualitätsjournalismus gegenüberstand. Das waren zum Beispiel 1990 und für mindestens ein Jahrzehnt danach die Darstellung der DDR, das war Ende der 1990er Jahre der Kosovo-Krieg und das war vom Herbst 2001 bis heute die Darstellung der Ereignisse vom 11. September 2001 und der Reaktion der damaligen US-Regierung darauf. In all diesen Fällen enthielt der Faktensatz a nicht einmal alle offensichtlichen Fakten. Fragen, die sich jedem intelligenten Beobachter aufdrängten, wurden nicht gestellt.

Es gab aber doch auch Politikfelder, auf denen weder Staaträson noch Herdentrieb zu einer Uniformität der Berichterstattung und der veröffentlichten Meinung führte. Die intellektuelle Qualität der öffentlichen Diskussion in der BRD war nie sehr hoch, aber es gab zeitweise doch eine öffentliche Diskussion, die man als solche bezeichnen konnte.

Seit die klassischen Medien immer mehr Marktanteil an Online-Medien verlieren, versuchen sie, ihre Position durch einen besser verkäuflichen Aufregungsjournalismus zu verteidigen, der mit Qualitätsjournalismus inkompatibel ist. Aufregungsjournalismus erfordert, möglichst starke Meinungen zu vertreten und das wiederum erfordert von der Seite A, die Menge bex der nicht berücksichtigten Fakten zu vergrößern. Wenn man alle Fakten berücksichtigt, ist es in der Regel schwierig, zu einer sehr starken Meinung zu kommen. Der Trend geht also hin zu extremeren Narrativen, die den Medienkonsumenten stärker engagieren und mehr Unterhaltungswert haben. Dadurch wird die Menge n der als neutral zu bewertenden Fakten kleiner und die Versuchung, selbst offensichtliche Fakten aus der Menge o zu unterschlagen, wird größer.

Das wäre schon dann ein Problem, wenn es unter den Mainstreammedien solche geben würde, die Narrativ A vertreten und andere, die Narrativ B vertreten, weil ein Abwägen der Narrative gegeneinander umso schwieriger ist, umso geringer die gemeinsame Faktengrundlage s ist. Im Extremfall, in dem s eine leere Menge ist, beziehen sich die Narrative gar nicht mehr auf einen gemeinsamen Sachverhalt. Eine Weiterentwicklung beider Narrative durch Austausch von Argumenten wird dann unmöglich.

Die gegenwärtige Situation ist aber noch kritischer. Bei immer mehr Themen vertreten fast alle einheimischen Mainstreammedien in fast all ihren Beiträgen das gleiche Narrativ A, das einen Teil bex an Fakten ausschließen muss, um überzeugend zu wirken. Zugleich sind Fakten aus der Menge bex durch Internetrecherchen zugänglich und in vielen Fällen sogar mit hinreichender Sicherheit verifizierbar. Außerdem ist es einfach geworden, alternative Narrative im Internet zu publizieren.

Dadurch hat sich eine Gegenöffentlichkeit herausgebildet, welche Narrative der Art B verbreitet und den Marktanteil der Mainstreammedien weiter beschneidet. In ihrer Spitze genügt die Gegenöffentlichkeit mitunter eher den Anforderungen an Qualitätsjournalimus als der professionell betriebene Journalismus.

Die Uniformität der Mainstream-Medien ist teilweise ein Ergebnis ökonomischer Zwänge, weil Abschreiben billiger ist und schneller geht als Recherchieren und unabhängiges Denken. Der Hauptgrund für die Uniformität ist aber ein anderer, nämlich eine unheilvolle Vernetzung der einflussreichsten Journalisten mit den einflussreichsten Politikern und Wirtschaftsvertretern.

Elitenetzwerke und Rückkopplung

Spätestens seit der Veröffentlichung der Doktorarbeit von Uwe Krüger, Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerk-Analyse., in Buchform beim Herbert von Halem Verlag Köln im Jahre 2013 ist diese unheilvolle Vernetzung Branchenkennern bekannt. Wem so eine wissenschaftliche Arbeit zu unverdaulich erscheint, der ist wahrscheinlich mit dem 2016 erschienenen Buch von Uwe Krüger Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. (C. H. Beck, München) besser bedient. Auch dieses Buch ist sehr sachlich geschrieben und versucht, die Lage der Journalisten zu verstehen, die zu den beschriebenen Phänomenen geführt hat.

Kurz gesagt hat Uwe Krüger herausgefunden, dass die Leitwölfe der Medienlandschaft (bei ihm Alpha-Journalisten), Leute wie Markus Schächter (ZDF), Klaus-Dieter Frankenberger (F.A.Z.), Stefan Kornelius (SZ), Michael Stürmer (Die Welt) und Josef Joffe (Die Zeit) in Lobby-Organisationen eingebunden sind und ständige Beziehungen mit hochrangigen Politikern und Wirtschaftsführern pflegen. Immer wieder tauchen Vereinigungen wie die Trilaterale Kommission, die Atlantik-Brücke e.V. (unter Anderen auch Claus Kleber, ZDF), die Münchner Sicherheitskonferenz, das American Institute for Contemporary German Studies und das American Council on Germany auf. Diese starke US-Vernetzung halte ich für ein gutes Erklärungsmuster für die derzeitige penetrante Kampagne gegen Donald Trump in den deutschen Medien. Trump steht gegen genau das politische Establishment in den USA, das die amerikanische Seite dieser Vereinigungen stellt. Auch hier ist es so, dass ich Trumps politische Ansichten nicht teile, aber dass ich die gegenwärtige Berichterstattung und Propaganda-Offensive für ausgesprochen heuchlerisch und für eine Verzerrung der Faktenlage halte.

Krüger argumentiert, dass diesen Leuten die nötige kritische Distanz zu den Spitzen von Politik und Wirtschaft fehlt und dass sich andere Journalisten an ihrer Meinung orientieren. Dadurch entstünde eine Verengung des Meinungskorridors, in dem erhebliche politisch interessierte Anteile der Bevölkerung ihre Ansichten nicht mehr finden könnten. So entstünde ein Bedürfnis nach Gegenöffentlichkeit. Ich halte das angesichts jüngerer Umfragen zum Vertrauen in die Mainstream-Medien nicht nur für plausibel, sondern für evident.

Nun impliziert das Bestehen solcher Netzwerke keine Verschwörung in dem Sinne, dass die Berichterstattung der Medien direkt durch die Politik gelenkt würde (obwohl Krüger in Mainstream anhand von Zitaten bekannter Journalisten auch über einzelne Fälle versuchter direkter Einflussnahme berichtet). Vielmehr ist es so, dass sich Gleichdenkende zusammenfinden und ein Narrativmonopol errichten.

Das ist nur allzu menschlich. Politiker oder Journalist wird nur, wer andere von seiner Weltsicht überzeugen will. Er (oder sie) wird sich bevorzugt mit Leuten treffen und bevorzugt Leute anstellen, die ähnlich denken, wie er (oder sie) selbst. Für die Politiker und Wirtschaftsführer ist es attraktiv, ihre Positionen direkt in die Leitmedien einspeisen zu können. Ein Journalist, der Zugang zu exklusiver Information von höchsten Stellen der Politik und Wirtschaft hat, sichert seine Machtstellung und seinen Einfluss.

Damit ist aber allemal die Gefahr eines Realitätsverlusts verbunden. Wer von außen nicht in Frage gestellt wird, stellt sich bald auch selbst nicht mehr in Frage. In dem engen Meinungskorridor, den die Eliten in ihrem Wunsch nach Einflussnahme schaffen, verarmt ihr eigenes Weltbild. Krüger benutzt dafür den Begriff der Echokammer.

Ich möchte hier noch weiter gehen. Die enge Vernetzung führt zu einer Rückkopplung. Den Politikern und Wirtschaftsführern, die ja auch Leitmedienkonsumenten sind, schlägt ihre eigene Meinung - vom Aufregungsjournalismus verstärkt - wieder entgegen. Was ursprünglich vielleicht ein Lösungsansatz unter verschiedenen möglichen war, erfährt auf einmal Bestätigung und gewinnt an Dringlichkeit. Nach ein paar Rückkopplungszyklen wird eine Krise empfunden, wo eigentlich gar keine ist, oder wo doch mit etwas mehr Flexibilität ein einfacher Ausweg zu finden wäre. Der Ansatz, der ursprünglich eine mögliche Alternative war, wird so im Weltbild der Akteure zum einzig möglichen, er wird als alternativlos empfunden. Mit der Zeit verfestigt sich das zu einer ganzen Weltanschauung, in der es nur noch alternativlose Ansätze gibt und alle Vertreter anderer Narrative dumm oder böse sind, am Besten Beides, wie Trump.

Aus dem Wunsch, das eigene Narrativ in der Öffentlichkeit zum dominanten zu machen, wird auf diese Art in den Augen der Akteure die Notwendigkeit, jedes andere Narrativ in Grund und Boden zu diskreditieren. Aus einer Diskussion um verschiedene politische Ansätze, in der man Kompromisse machen kann, wird eine absolutes „Wir oder sie“. Eine solche Entwicklung verunmöglicht den Interessenausgleich in der Gesellschaft und verringert deren Zusammenhalt.

Die innere politische Stabilität des westlichen Systems beruht derzeit wohl nur noch auf dem großen Anteil apolitischer Menschen. Diese werden so lange eine der etablierten Parteien wählen, wie sie ihre eigene Lage als gut oder zumindest erträglich einschätzen. Die Situation in den USA und in geringerem Ausmaß auch das Brexit-Referendum zeigen allerdings, dass dieser Anteil nicht unbedingt immer groß genug sein muss.

Wenn der innere Kriegszustand in der öffentlichen Kommunikation anhält, in dem sich der Westen derzeit befindet, wird es über kurz oder lang zu echten Handgreiflichkeiten kommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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