Tage der offenstehenden Tür

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Mit dem Rücken zur offenen Tür sitze ich an einem großen Tisch, tippe auf meinem Netbook herum. Es ist 7.05 Uhr, ein weiterer langer Tag in der „Maßnahme“ beginnt. Der Akku des kleinen Geräts vor mir hält noch mindestens acht Stunden durch und die Helligkeit des Bildschirms ist ausreichend. Ans Stromnetz darf ich es nicht anschließen, das wäre Stromdiebstahl. Und an den sieben Internet-Rechnern sitzen schon andere KollegInnen - die sieben Durchsetzungsfähigsten, Ranghöchsten. Der größere Rest ist auf mitgebrachte Technik angewiesen. Und immer steht die Tür offen. Als Rangniedrigstem wurde mir der Platz an der Tür zugewiesen, scharfe Zugluft trifft meinen Nacken. Bestimmt habe ich bald einen steifen Hals, den redensartigen „dicken Hals“ habe ich schon längst. Ich hänge mir die Winterjacke um und falle damit sofort auf. Jemand schließt die Tür, ich sage Danke. Die vorige Woche war schon schlimm, abends zu Hause war ich nur noch in der Lage, „Vesperia“ auf der X-Box zu spielen. Dannärgerte ich mich unbändig über eine Billigproduktion im Radio, schrieb eine launige Kritik. Der Produzent, ein adelsstolzer Heimarbeiter, drohte sofort mit Klage. Sollte er doch – ich habe Armenrecht. Arme haben Recht, nicht immer, aber immer öfter?

Die Rechte nützen mir überhaupt nichts, wenn das Finanzielle nicht stimmt, die Arbeit nicht da ist. Nun gut, ich habe eine kleine Nebentätigkeit, der ich wohl auch die Einweisung in diesen Gulag verdanke. Die Damen von der ARGE hatten mich bedrängt, selbständig zu werden. Aber da hätte ich nur für Miete und Krankenversicherung gearbeitet. Also gebe ich im Hartz-IV-Antrag tagesgenau alle Zahlungseingänge der Nebentätigkeit an. Auch eine Ertragsvorschau für den nächsten Bewilligungszeitraum muss ich einreichen, kein Problem. Doch inzwischen gibt es eine Art Verfolgungswelle gegen "Hartzer" mit Zuverdienst, auch eine Neidkampagne rollt an: 12.15 Uhr, Mittagspause im Einkaufszentrum. Von Flachbildschirmen dröhnendie RTL-Nachrichten: es gäbe schon viele Niedriglohn-Betroffene, die weniger als Hartz-IV-Empfänger verdienten und da müsse „die Politik“ doch dringend etwas tun. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, sagen die Genossen Bebel und Sinn. Und wer arbeitet, soll dabei hungern oder wenigstens frieren – im Durchzug der privatisierten Verfolgungsbehörde!

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Geschrieben von

hadie

Was die Arbeitnehmer jetzt brauchen, ist ein Rettungsschirm für die Portemonnaies. (Frank Bsirske)

hadie

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