Bürgergeld-Erregung: Entfesselter Populismus der Union
Meinung Für viele Christlich-Liberale ist die verfassungsgemäße Erhöhung des Bürgergeldes ein Thema, über das sich lustvoll aufregen lässt. Was den einen verbale Befriedigung verschafft, schadet jedoch dem Sozialstaat
Lebensmittel sind fast 27 Prozent teurer als letztes Jahr
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Was den einen Leder oder Latex ist den Neoliberalen das Bürgergeld oder Hartz IV. Fällt auch nur das Wort, steigt die Erregung. Dabei geht es allein um Machtspiele. CDU/CSU, aber auch die eigentlich mitregierende FDP, schwingen in der aktuellen Bürgergeld-Debatte geradezu leidenschaftlich die verbale Peitsche. Und im Zustand größter Streitlust scheuen sie weder offenkundigen Unsinn noch AfD-Vokabular.
Pikanterweise stehen im Mittelpunkt der Debatte ausgerechnet „fehlende Anreize“. So wird in Endlosschleife vorgetragen, man müsse den Regelsatz möglichst niedrig halten, weil sonst die Leistungsberechtigten keinen Anreiz hätten zu arbeiten. Dieser Schlager wird so oft abgespult, dass er sich als Ohrwurm festfrisst – gegen alle Fakten.
eife vorgetragen, man müsse den Regelsatz möglichst niedrig halten, weil sonst die Leistungsberechtigten keinen Anreiz hätten zu arbeiten. Dieser Schlager wird so oft abgespult, dass er sich als Ohrwurm festfrisst – gegen alle Fakten. Denn von den 5,5 Millionen Menschen in Bürgergeld sind die allermeisten gar nicht erwerbsfähig: Sie sind Kinder und Jugendliche und gehen in die Schule oder machen eine Ausbildung. Sie sind krank. Oder sie leisten Care-Arbeit und kümmern sich um angehörige Alte, Kranke oder mangels Kita-Angebot um Kleinkinder. Diese unbezahlte 24/7-Vollzeitarbeit ist für unsere Gesellschaft angesichts von Fachkräftemangel in der Pflege systemrelevant und ökonomisch wertvoll. Dazu kommen noch knapp eine Million Menschen, die zwar einer Erwerbsarbeit nachgehen, aber nicht genug verdienen, um davon leben zu können. Sie bekommen aufstockend Bürgergeld. Den Leuten fehlt es nicht an ArbeitBleiben unterm Strich 1,6 Millionen Menschen, die in der Statistik als voll erwerbsfähige Leistungsberechtigte auftauchen. 1,6 von 84 Millionen Staatsbürger:innen – das sind weniger als zwei Prozent. Nein, wir haben definitiv kein Beschäftigungsproblem in Deutschland! Den Leuten fehlt es nicht an Arbeit. Es fehlt ihnen an Geld. Selbst die ach so besinnliche Weihnachtszeit kennt für sie keine Gnade. Als mit Hartz IV Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenflossen, wurde zugleich der Weihnachtszuschuss abgeschafft. Seitdem bedeutet das kein Geld für Geschenke, Weihnachtsbaum oder ein besonderes Essen. Auch mit dem Bürgergeld wird dieser harte Kurs gehalten: Weihnachten muss für 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche ausfallen. Kommen wir zu den Sanktionen, die Neoliberale am liebsten wieder in voller Härte anwenden würden. Erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2019 bremste die seit 2005 angewandte Brutalität von Totalsanktionen bei Fehlverhalten. Das Existenzminimum müsse laut Grundgesetz gesichert werden und jede Sanktion sei ein schwerer Eingriff in individuelle Persönlichkeitsrechte, die nur mit besonderer Vorsicht vollzogen werden dürften. Seitdem sind nur noch Kürzungen des Regelsatzes von höchstens 30 Prozent zulässig. Diese rechtliche Grenze hat die Ampelregierung bei ihrer Neuregelung des Bürgergelds und der angeblichen Überwindung von Hartz IV maximal ausgeschöpft. Der Niedriglohnsektor boomtTrotzdem fordern die Unionsparteien jetzt lautstark härtere Sanktionen für die, „die arbeiten können, aber nicht wollen“. Doch wo sind sie denn, die, die nicht arbeiten wollen? Sieben Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor. Sie putzen die Toiletten in den Büroetagen, füllen die Supermarktregale, schleppen die Pakete und schlachten die Gänse. Unser Sozialsystem trägt maßgeblich dazu bei, dass der Niedriglohnsektor weiterhin boomt. Die Menschen haben keine Verhandlungsbasis. Sie müssen die miesen Jobs annehmen und bleiben oft genug trotzdem abhängig vom Staat, da selbst der Mindestlohn nicht zum Leben reicht. Vieles ist Saison-Arbeit und so landen die, die einmal Bürgergeld erhielten, häufig immer wieder beim Jobcenter. So absurd diese Faulenzer-Phantasien der Unionsspitze sind, so widersprüchlich ist ihr Verhältnis zum Grundgesetz. Schließlich rühmt sich die Oppositionspartei CDU derzeit dafür, dass es ihr gelungen sei, durch das Staatshaushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts die Regierung ans Grundgesetz zu binden. Im selben Atemzug aber macht sie Vorschläge, die gegen das Grundgesetz verstoßen. Das gilt nicht nur für die Forderung nach höheren Sanktionen, sondern auch für die Rufe nach Arbeitszwang. Damit stellt sie mal eben das grundlegende Recht auf freie Berufswahl in Frage. Dabei gilt diese Freiheit für a l l e Menschen in Deutschland. Unabhängig von Alter und Herkunft. Entfesselter Populismus der CDU gegen die Armen – doch was kosten uns die Reichen?Befreit von Fakten und Gesetzen zeigt sich der entfesselte Populismus auch beim nächsten Aufreger: der angeblich gigantischen Erhöhung des Bürgergelds zum 1. Januar 2024. In Wahrheit ist auch sie kein Skandal, sondern gesetzlich vorgeschrieben. Sie gleicht gerade mal die vergangenen Preissteigerungen aus, nachdem jahrelang kein Ausgleich erfolgt war. Diese notwendige Korrektur eines Missstandes hat die FDP als Regierungspartei mitbeschlossen, und die Union hat ihr im Bundesrat zugestimmt. Tatsächlich sind die regelbedarfsrelevanten Posten sogar deutlich stärker gestiegen als der Durchschnitt der Inflation. Lebensmittel sind fast 27 Prozent teurer als letztes Jahr. Fast zwei Millionen Menschen täglich kämen ohne die Tafeln nicht mehr klar. Was uns die Armen kosten, darüber wird gern viel gesprochen. Wir sollten aber darüber reden, was uns die Reichen kosten! In diesem Land leben 237 Milliardäre, die zusammen mehr als 1400 Milliarden Euro besitzen. Ein unfaires Erbschaftssteuersystem, das Reiche generationsübergreifend deutlich bevorzugt, sorgt dafür, dass sich jede Menge Geld bei verschwindend Wenigen vermehrt. Das könnten wir reformieren. Wir könnten Steuergeschenke für Reiche und Wohlhabende, wie die Pendlerpauschale oder das Dienstwagenprivileg, abschaffen. Wir könnten eine Luxussteuer einführen. Wer Jet oder Jacht, Rolex oder Rolls-Royce kauft, braucht keine staatliche Unterstützung. Wer im Luxus lebt, hat die multiplen Krisen der letzten Jahre gar nicht bemerkt. Vorstände von milliardenschweren Konzernen lassen die Champagner-Korken knallen und feiern auf dem Rücken der Ärmsten Rekordgewinne. Tatsächlich hat Champagner 2022 ein Rekordjahr hingelegt. Luxusgüter boomen. Es gab in der Branche ein Umsatzwachstum von 28 Prozent. Wohlstand wird gefördert, nicht erarbeitetEine echte Leistungsgesellschaft sähe anders aus.Denn ausgerechnet bei den Superreichen wird das neoliberale Mantra „Fördern und Fordern“ nicht angewandt. Stattdessen wird mit aller Kraft der Wohlstand derer verteidigt, die ihn bereits in der Erbschafts-Lotterie gewonnen haben.So entgeht der Gemeinschaft viel Geld, denn reiche Menschen wissen, wie sie ihre Privilegien schützen. Professionelle Lobbyarbeit wird mit Unsummen betrieben. Arme haben dem nichts entgegenzusetzen. Sie können weder Abgeordneten beim Lunch Honig ums Maul schmieren, noch ihnen mit vorformulierten Gesetzesvorschlägen die Arbeit erleichtern. Stattdessen schlagen sie sich täglich mit einem Existenzkampf herum, der systematisch geschaffen und politisch gewollt ist – und ihnen zynischerweise selbst in die Schuhe geschoben wird. Immer noch gerechtfertigt durch das weit verbreitete Narrativ, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Dabei ist Armut ein strukturelles Problem. Unsere Sozialleistungen sind zu niedrig. Sie liegen unter der von der EU festgelegten Armutsrisikogrenze. Solche mühsam kleingerechneten Regelsätze bringen Menschen nicht in Arbeit, sondern in Not. Und die macht leider nicht erfinderisch, sondern krank. Altersarmut ist wie Klimawandel: Wir können etwas dagegen tun!Trotz alledem schrecken die Unionsparteien und die FDP nicht davor zurück, auf niederträchtigste Art Menschen in Bürgergeld zu schmähen. Solche Diskriminierung und die soziale Ausgrenzung tragen wesentlich dazu bei, dass Menschen ihren Anspruch auf Sozialleistungen gar nicht erst wahrnehmen. Das gilt insbesondere für Beschäftigte im Niedriglohnsektor, aber auch für vermindert Erwerbsfähige und Menschen in Rente. Nur jede:r dritte berechtigte Kleinstrentner:in beantragt die Grundsicherung im Alter. Es mag politisches Kalkül sein, wenn Union und FDP hier Öl ins Feuer gießen, um Wählerstimmen am rechten Rand zu fischen. Dabei könnten sie eventuell mehr Stimmen gewinnen, wenn sie sich der Realität stellen würden: Wir haben nämlich keinen aufgeblähten Sozialstaat, wir haben eine Verteilungs- und eine soziale Krise. Es fehlen mehr als 700.000 Sozialwohnungen, 400.000 Kitaplätze, 200.000 Pflegekräfte. In Westdeutschland muss jede*r Fünfte mit Mindestlohn auskommen; in Ostdeutschland sogar jede*r Dritte. Vor der damit einhergehenden Altersarmut sind vor allem Frauen zu wenig geschützt. Dabei ist klar: Altersarmut ist wie Klimawandel. Wir wissen, dass es passiert – wir könnten etwas dagegen tun. Möglichst schnell Armut und Emissionen reduzieren. Die Löhne anheben, ins Richtige investieren und klimaschädliche Subventionen, die uns jährlich mit 65 Milliarden zu Buche schlagen, reduzieren. Aber für diese Art von Arbeit fehlt es den Parteien der „bürgerlichen Mitte“ offenbar an Anreizen.
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