Mehr zivilgesellschaftliche Radikalität!

Sabotage Jakob Augstein im Gespräch über Demokratie, Taschenrechner, Pragmatismus und die Frage, warum die Gesellschaft nicht wütender ist.

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Herr Augstein, nachdem "Wutbürger" Unwort des Jahres war, und Sie in Ihrem Buch schreiben, dass es ja bei der Entstehung negativ besetzt war: Können wir anfangen, es positiv zu besetzen?

Jakob Augstein: Ich würde es gern positiv besetzt sehen, weil in diesem Begriff ein Potenzial für zivilgesellschaftliches Engagement steckt. Aber das ist diskreditiert worden. Es ist
also ein schönes Wort, das leider der Debatte geschadet hat.

Sie schreiben über Beispiele von Sabotage in Frankreich: "War es das wert?' könnte man fragen. Natürlich hat es sich gelohnt: Es war eine Übung, ein Training für den Notfall. Für den demokratischen Notfall, in dem der Widerstand zur Pflicht wird." Was wäre in Deutschland so ein Notfall?

Die Bankenkrise war so ein Notfall. Die Occupy-Bewegung hätte das vorhandene Protest- und Empörungspotenzial besser bündeln und vehementer zur Geltung bringen müssen. Occupy hätte kompromissloser und entschlossener Reaktionen der Politik fordern sollen. Aber Sie können natürlich nicht wegen jeder Kitaschließung den Flughafen Schönefeld blockieren. Ich finde das Veränderungspotential in unserer Gesellschaft ungeheuer groß.

Sie wurden im Interview mit dem WDR gefragt, ob Sie tatsächlich zur Gewalt aufrufen. Darauf haben sie gesagt: "Ich bin Journalist, kein Politiker. Ich rufe zu gar nichts auf. Ich beschreibe nur." Ist das nun nur ihr journalistisches Selbstverständnis oder sollte das generell so sein?

Früher hätte ich da eine ganz klare Antwort gehabt, da hätte ich gesagt, Journalisten sollen sich heraushalten, Fremde sein, sollen nur beschreiben. Es kann aber sein, dass die Digitalisierung und der Strukturwandel der Medien auch noch eine andere Art von Veränderung mit sich bringt. Es könnte sein, dass diese Lehre, die ja aus der Blütezeit des klassischen Journalismus kommt, eines Tages nicht mehr gilt. Ich weiß es aber nicht. Es kann sein, dass man auf Dauer als politischer Journalist auch etwas Aktivistisches bekommt. Wenn der Journalismus personengebundener wird könnten auch die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus verwischen. Sehen Sie sich Glenn Greenwald an. Was er im Fall Snowden getan hat, ist das noch reiner Journalismus oder schon politischer Aktivismus?

Außerdem sagen Sie, Journalisten müssen kontrollieren und hinterfragen.

Das tun sie ja auch. Der Kern dieser Arbeit ist die Kontrolle, Herrschaftskontrolle, auf Widersprüche hinweisen. Aber das ist ja etwas anderes, als selbst zu handeln. Das wäre Aktivismus. Wenn man bei Stuttgart 21 eine Rede hält ist man kein Journalist mehr. Man wechselt dann die Seiten.

Sie würden keine Rede bei Occupy oder Stuttgart 21 halten, aber sind sie irgendwo mit demonstrieren gegangen, oder würden sie das machen?

Ich tue mich schwer mit dem politischen Engagement von Journalisten. Ich würde mit ihnen nicht darüber reden, welche Partei ich wähle oder in welcher ich Mitglied bin. Aus dem gleichen Grund würde ich nicht beantworten wollen, für welche Sache ich mich eingesetzt habe. Es gehört sich irgendwie nicht.

Sie haben Oskar Negt zitiert: "Politische Moral bildet sich im Zustand der Empörung". Haben wir unsere Empörung seit Occupy unterwegs verloren - oder haben wir bewusst darauf verzichtet?

Der unmittelbarste Anlass zur Empörung war ja die Finanzkrise, das ist ja offensichtlich vorbei. Es ist nicht zu einem Systemwechsel gekommen, damit war auch nicht zu rechnen. Es ist aber auch nicht zu einer grundlegenden Reform des bestehenden Systems gekommen. Zumindest das wäre denkbar gewesen. Es ist ja knapp genug ausgegangen - und in Europa noch gar nicht vorüber. Aber offensichtlich ist dieses herrschende System sehr fest gefügt. Ich frage mich jeden Tag, warum die Leute nicht wütender sind.

Sind sie da optimistisch? Sie sagen über David Graebers positive Äußerungen über die Auswirkungen von Occupy, er sei Optimist.

Ja. Er ist offenbar Optimist. Er sagt, Occupy habe gewonnen. Wie die Bewegung von 1968 habe auch Occupy einen großen Kulturwandel ausgelöst. Ich glaube das aber nicht. '68 war tatsächlich ein solcher Kulturwandel. Occupy aber zielte eigentlich auf eine Reform des Systems ab - und die hat nicht stattgefunden. Den Kulturwandel kann jeder für sich machen: Sexualmoral, Geschlechtermoral, staatsbürgerliches Verständnis und so weiter. '68 hat die Gesellschaft von innen heraus verändert. Die Leute sind danach anders gewesen als vorher. Das ist bei Occupy gar nicht möglich. Es geht nicht um die Leute, sondern um die Institutionen, die Gesetze, die politischen Praktiken, die verändert werden müssten. Aber es hat sich nichts geändert.

"Der Tatsachenmensch leugnet das Politische. Er steht an Land - und sitzt da fest."

Was ist eigentlich ein Tatsachenmensch? Der Begriff taucht im Buch ein paar Mal auf.

Es ist ein Wort von Musil. Für mich sind Tatsachenmenschen Leute, die glauben, man könne Werte mit dem Taschenrechner ausrechnen. Werte sind aber keine Zahlen. Werte sind Ideen und Überzeugungen. Tatsachenmenschen sind Materialisten. Was wir brauchen, sind Utopisten. Tatsachenmenschen sehen die Folgerichtigkeit in den Dingen. Darum schätzen sie das Veränderungspotenzial viel geringer ein als ich das zum Beispiel tun würde. Tatsachenmenschen leugnen das Politische. Sie sehen gar nicht, dass Politik und Wirklichkeit Fragen der Haltung sind, nicht der Messung. Der Tatsachenmensch braucht auch keinen Dialog, keine Debatte, weil er die richtige Antwort nicht suchen muss.

Also Leute, die grundsätzlich auf Fakten setzen und sagen "Die Theorie ist zwar ganz schön, aber das sind die Fakten, und daran ist mit der schönsten Utopie nicht zu rütteln".

Genau. Und das ist die reine Ideologie, und zwar die schlimmste von allen, weil sie am leichtesten für alle zugänglich ist. Dieser Ideologie können sich sehr, sehr viele Leute anschließen, weil sie so schein-einfach ist.

Sie haben aber gleichzeitig mal im Zusammenhang mit einem Artikel von Ihrem Kollegen Fleischhauer über Sahra Wagenknecht geschrieben: "Das ist das Problem aller Ultras. Die Theorie hat immer Recht, es sind die Fakten, die irren. Die Linken erledigen sich selbst." Das klingt aber so ein bisschen nach...

...Tatsachenmensch. Ja, weil ich der Meinung bin, dass man die Leute da abholen muss, wo sie sind. Und es gibt Theorien, die sehr weit von den Menschen entfernt sind. Als ich den Freitag übernommen habe, habe ich den Leuten gesagt "Ihr seid eine linke Zeitung, gut so, aber ihr seid ziemlich weit draußen auf hoher See, außer Sicht. Ihr seid ganz allein auf dem Meer. Das hat was - aber es hilft wenig. Da ist ja sonst niemand. Kommt näher ran!"
Der Tatsachenmensch ist also nicht nur ein Idiot. Er steht an Land. Und sitzt da fest. Wir reden also immer von Orten auf einem Spektrum. Die Wirklichkeit liegt irgendwo dazwischen. Ich grenze mich von den Tatsachenmenschen ab, habe aber viel Tatsachenmenschliches in mir.

Sie unterscheiden in Ihrem Buch häufig zwischen Bourgeois und Citoyen. Überhaupt haben Sie sehr viel Wiederbelebung von Wörtern dabei. Warum haben Sie das Wort Sabotage gewählt?

Der Begriff nimmt Rückgriff auf die politische Kultur Frankreichs, von der wir eine Menge lernen können. Es ist ja sonderbar, dass wir trotz der europäischen Integration immer noch intakte autochtone politische Kulturen haben zwischen denen praktisch kein Transfer stattfindet. Auf Deutsch würde man das Wort "Anschlag" benutzen. Das hat etwas Terroristisches. In "Sabotage" ist das politische Element des Widerstands viel stärker. Auch Akte des Rechtsbruchs können politisch motiviert, können politische
Handlungen sein. Wir haben uns entschieden, das sehr schnell zu kriminalisieren.

Meistens haben die Leute, die eine Debatte fordern, schon ihre Antwort darauf parat. War das hier gerade auch Ihre Antwort auf diese Debatte?

Nein. Die Gesellschaft muss als Ganzes darüber sprechen. Wie stehen wir zu Akten von politisch motivierten Regelverletzungen? Welche Art von Regelverletzung findet in einem wie großen Teil von Öffentlichkeit noch Akzeptanz? Die Antworten auf diese Fragen ändern sich im Lauf der Zeit - sollten sich ändern.

Das Gespräch fand vor über einem Jahr, im August 2013, statt und war bisher online bei www.fluter.de zu lesen.

"Sabotage - Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen" erschien am 29. Juli 2013 im Hanserverlag.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Helke Ellersiek

Freie Journalistin. Leipzig, Köln, Berlin.Twitter: @helkonie

Helke Ellersiek

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