Um gerade mal 41 Cent soll der Mindestlohn steigen. Gegen die Stimmen der Gewerkschaften hat die Mindestlohnkommission vergangene Woche dieses Ergebnis für die Jahre 2024 und 2025 verkündet. Es ist ein Anstieg von 3 Prozent pro Jahr im Angesicht von Rekordinflation und Reallohnverlust. Dabei entlarvt allein die Tatsache, dass Arbeitgeberseite und Präsidentin die Gewerkschaften überstimmen können, die Institution, die dazu gedacht war, den politischen Konflikt um den Mindestlohn gleichberechtigt und jenseits von Tarifauseinandersetzungen zu verhandeln. Doch von Gleichberechtigung war bei dieser Entscheidung keine Spur mehr. Die Kommission wird politisch einseitig genutzt und verfehlt damit ihr Ziel.
Der Mindestlohn war 2015 gegen große Widerstände der Arbei
der Arbeitgeberseite eingeführt worden, um den wachsenden Niedriglohnsektor und die damit verbundenen Armutslöhne wieder abzufedern. Gerade die SPD drängte auf einen Mindestlohn, obwohl sie mit der Agenda-Politik selbst erst die ökonomischen Verhältnisse geschaffen hatte, die ihn nötig machten. Trotz heftiger Kampagnen gegen seine Einführung – unter Flankierung der Ökonomik, deren bekannteste Stimmen irrigerweise prophezeiten, der Mindestlohn würde Arbeitsplätze kosten – wurde er schließlich 2015 gesetzlich eingeführt und seitdem immer wieder stückweise angehoben. Sozialverbände kritisieren regelmäßig, dass der Mindestlohn in eine Armutsrente führt, doch jede Anhebung wird – wie jetzt – zum Politikum und ist daher schwer durchzusetzen.Frank Schäffler, der Ultraliberale in der Ampelregierung und zufällig auch Hauptgegner des Heizungsgesetzes, sagt sogar: „Ein gesetzlicher Mindestlohn ist Bevormundung“. Das ist nicht ganz falsch, denn der Mindestlohn untergräbt tatsächlich die Tarifautonomie und greift politisch in den Lohnkonflikt ein. Auch die Gewerkschaften stimmten diesem Kompromiss zu, weil es in einigen Branchen, etwa in der Gastronomie, schwierig genug ist, die Beschäftigten für höhere Löhne zu organisieren. Gerade Frauen und Migranten sind im Niedriglohnsektor beschäftigt, sie profitieren von einem gesetzlichen Mindestlohn. Doch statt selbst für höhere Löhne zu kämpfen, verlagert man mit der Mindestlohnkommission den Konflikt in ein siebenköpfiges Gremium. Man muss es nicht Bevormundung nennen, wie die FDP das tut, aber man kann schon sagen, dass sich die Gewerkschaften damit auch selbst ein Bein gestellt haben. Den Klassenkonflikt einzuhegen kann immer auch die Gefahr mit sich bringen, die Seite der Arbeit systematisch zu schwächen.Europäische Mindestlohnrichtlinie verlangt 13,53 Euro ab November 2024Die SPD wäre nun nicht die SPD, wenn sie in einem solchen Moment nicht ihre soziale Ader entdeckte. Immerhin hatte sie im Bundestagswahlkampf mit einem höheren Mindestlohn und „Respekt“ geworben. Das Versprechen von 12 Euro wurde schnell gehalten, doch das war vor der Rekordinflation. Dass die nun geplante Erhöhung um 41 Cent für 2024 nicht ausreichen würde, merkte auch der Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil, und tritt todesmutig mit einem Vorschlag von 14 Euro auf.Was Klingbeil und die SPD jedoch verschweigen: Deutschland hinkt hinterher. Denn die europäische Mindestlohnrichtlinie, ein Durchbruch auf europäischer Ebene, sieht einen Mindestlohn in Höhe von 60 Prozent des Medianeinkommens vor. Für Deutschland beträgt dieser 13,53 Euro pro Stunde, die ab November 2024 gezahlt werden müssten, wenn man nicht gegen die Richtlinie verstoßen will. Entweder die Mindestlohnkommission oder die Ampelregierung selbst müssen sich bis dahin auf eine weitere Erhöhung geeinigt haben.Insofern handelt es sich beim Mindestlohn gleich zweifach um einen sozialdemokratischen Taschenspielertrick. Erstens übertrug man politische Verantwortung auf eine Kommission, deren Entscheidungen man nun „mit Bedauern“ (Hubertus Heil) hinnimmt. Für eine Kanzlerpartei und einen sozialdemokratischen Arbeitsminister ist es natürlich möglich, in einer ökonomischen Situation, in der über 8 Millionen Beschäftigte einen Reallohnverlust im Niedriglohnsektor erleiden, politisch gegenzusteuern. So zu tun, als hätte man damit nichts am Hut, macht die Mindestlohnkommission wiederum mächtiger als sie sein sollte.Zweitens gibt man in einem weiteren politischen Manöver nun vor, die weitgehende Forderung zu stellen, zu deren Umsetzung man ohnehin von außen gezwungen wird. Vermutlich wird man die Erhöhung so weit hinauszögern, wie es die EU-Richtlinie erlaubt und sie dann auch noch als sozialdemokratischen Erfolg feiern. So ist das politische Geschäft, das auf dem Rücken derer ausgetragen wird, die de facto weniger in der Tasche haben als vorher.Was hülfe? Ganz klar: die gewerkschaftliche Macht auch in den Branchen zu stärken, die als schwer organisierbar gelten. Denn auf die politische Vertretung oder Kommissionen kann sich niemand dauerhaft verlassen. Der Mindestlohn war schon immer nur die notwendige Korrektur eines arbeitsmarktpolitisch misslungenen Kurses. Mittlerweile ist er nicht einmal mehr das Mindeste.