Literatur als fluider Sprengstoff

#AfricanBookFestival Writing in Migration - Der nigerianische Schriftsteller Chris Abani sagte am Eröffnungsabend: „Migration ist das Hauptwort unserer Zeit.“

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Chris Abani

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Überfallen von Gespenstern der Anwandlungen und den Geheimräten eines schwallartigen Offenbarungsfiebers gerät ein Festredner aus dem Tritt der Routine. Er verhaspelt sich, mixt Sprachen und wirbt für sein Chaos. Er versagt als Namensgeber einer großen Stunde und reüssiert als Versager. Auch wenn das Spiel angekündigt wurde, wirkt der Anfang wie das Desaster einer zur Ansage auf die Bühne bestellten Fehlbesetzung. Jerry Hoffmann verkörpert den Entgleisten beim theatralischen Auftakt des ersten African Book Festivals – Writing in Migration. Siehe https://www.freitag.de/autoren/jamal-tuschick/schwarz-auf-weiss

Seiner Performance ging die erste Diskussion des von Olumide Popoola künstlerisch und vom InterKontinentalteam Karla Kutzner/Stefanie Hirsbrunner organisatorisch geleiteten Festivals voran. Siehe http://www.interkontinental.org/de/home/about-us/

Hoffmann leiht einem Exaltierten mit rheinländischer Großmutter seine Statur. Oma emigrierte nach Bayern und ließ sich da als Fremde mundartlich bis zum bitteren Ende vernehmen. Sie spielte Klavier und fühlte sich von Schumann besonders angesprochen. Jeder Schwarze mit deutscher Mutter hat so eine Oma, die ihn so lieb hatte wie jedes weiße Baby. Sie erschien nur ein bisschen steifnackig, wenn sie den Kinderwagen über den Bürgersteig der Bahnhofsstraße schob; innerlich gut gewappnet gegen grobe Bemerkungen zum Themenkreis Rassenschande.

Die German person of color Hoffmann schildert eine deutsche Person von Farbe, die auf dem Empowerment Ticket von Großveranstaltung zu Großveranstaltung reist und bei jeder Gelegenheit mit dem gleichen als Seelennahrung in den Gemeinden kursierenden Text aufwartet.

Ich verpasse die (selbst)kritischen Punkte der Performance, an der Christiana Burcea, Marcus Peter Tesch, Thorbjørn Uldam randläufig beteiligt sind. An einer Stelle sagt Hoffmann als Mr. G-Poc: „Entscheidend ist der Pass, den du besitzt.“

Wie wahr.

Literatur ist das Nitroglycerin der Kunst - ein fluider Sprengstoff.

Olumide Popoola, die Kuratorin des Festivals, begrüßt den wahren Festredner Chris Abani. Sie sagt: „Da ist nichts neu unter den Monden des Exils.“ Die Exilierten sind auf ewigen Bahnen verbunden mit ihren Vorgänger*innen. Olumide Popoola beschwört die Kraft der Imagination als Impfstoff gegen den Fatalismus.

Der nigerianische Schriftsteller Chris Abani bezeichnet Literatur als die „flüssigste (fließende) Kulturform“. Albani sagt fluid. Ich sage euch, das Wort hat Zukunft. Die Migration schafft fluide Charaktere. Wir sind wie das Wasser, unfassbar und überall.

Abani sagt: „Migration ist das Hauptwort unserer Zeit.“

Entweder drehen sich politische Nachrichten um Kriege, drohende Kriege oder um Migration. Migration ist eine Kriegsfolge. Der Kolonialismus war ein Krieg der Europäer gegen Afrika nicht zuletzt. Ohne die Exploitationskampagnen seit den westindischen Abenteuern des Kolumbus wäre Europa zu schwach, um auch nur eine Grenze zu halten. Die alten Kolonialreiche erheben als Demokratien weiterhin Anspruch auf Überlegenheit. Sie wollen, so Patrick Chamoiseau in seinem Essay „Migranten“, „Elend, Terror und Armut“ an einem anderen Ende der Welt „anpflocken“. Jahrhundertelang konnten sie vom Youth Bulge über die Lohnkosten und den Müll bis zu ihren Schwerverbrechern Belastungen exportieren und sonst wo vergesellschaften. Oft waren Gewohnheitsverbrecher die ersten Weißen, die Schwarze zu sehen bekamen. Diese Lichtgestalten brachten das große Projekt der Zivilisation, das von hinten durch die Faust ins Auge heute gern wieder als positives Kolonialerbe beschworen wird. Der europäische Standpunkt formuliert sich auf einem Berg von Leichen. Die Migranten geraten aus afrikanischen Metropolen in ewignächtliche Randgebiete. Sie siedeln in den Wüsten von Europa. Der in Calais planierte „Dschungel“ bricht durch den Asphalt der Anti-Boulevards. http://www.zeit.de/video/2017-07/5500705715001/calais-was-aus-dem-dschungel-geworden-ist

Jede Auswanderin steht auf den Schultern ihrer Vorgänger*innen.

Kein Westen ohne Afrika

In einem luzid-fluiden Séance- und Trance-Style erklärt Abani, wie der Westen in Afrika zur Welt kam. Alle Poesie wurden zuerst in der Bibliothek von Timbuktu gesichert. Einige Familien in Mali wirkten als Wärterklans des Weltwissens. https://www.zeit.de/kultur/2013-01/interview-mali-houssoubea

In der Migration fließt der afrikanische Text durch die Zeitzonen des Transits. Seltene Sprachen transportieren geheime Botschaften. Sie haben Infiltrationskraft. Sie markieren die porösen Stellen der weißen Mauern. Sie informieren.

Noch einmal Chamoiseau: „Die Mondialität ist eine Ahnung, von der die gesamte Menschheit in ihrer Diversität ergriffen wird, und die über die Erde in ihrer Weite und Tiefe hinweg alle miteinander verbindet.“

Gleich mehr.

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Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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