Wild West Diversity

Literatur Maggie Shipstead, „Kreiseziehen“ - Die Autorin nimmt einen langen Anlauf, um die häusliche Umgebung ihrer Heldin Marian Graves in den Blickpunkt zu rücken. Sie beginnt mit jener quartären Aussterbewelle ...

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Maggie Shipstead nimmt einen langen Anlauf, um die häusliche Umgebung ihrer Heldin Marian Graves in den Handlungsmittelpunkt zu rücken. Sie beginnt mit jener quartären Aussterbewelle, die vor knapp zwölftausend Jahren endete. Das letzte Glazial schuf auch den Hellgate Canyon aka Porte de l’Enfer, wie die Coureur-des-bois (Waldläufer) zu dem nordamerikanischen Höllentor sagten. Das ist eine Schlucht im Missoula County von Montana. Die ersten Europäer, die das Hell’s Gate nachweislich sahen, gehörten zur Lewis-und-Clark-Expedition. Bei dem Megafaunasterben verschwanden hundert Kilo schwere Nager (Castoroides) von der Bildfläche. Die Autorin schwärmt von „grizzlygroßen Bibern“. Bei einem, nach menschlichen Begriffen finalen, nach erdgeschichtlichen Kategorien temporären Gletscherrückzug starb auch der Schreckliche Wolf (Canis Dirus) aus. In der Gesellschaft ihres Zwillingsbruders Jamie erkundet Marian die hoch aufladbaren, superikonografischen Reliefs und Grate von fünf heruntergerockten Gebirgstälern in einem endorheischen Becken. In dieser archaischen Idylle steht das Haus jenes Wallace Graves, der den Kindern seines sozial verunglückten Bruders Addison eine unbeschwerte Wildnis-Kindheit und Jugend beschert.

Maggie Shipstead, „Kreiseziehen“,Roman, aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz, dtv, 28,-

Der ausgemachte Junggeselle Wallace übernahm die Nichte und den Neffen nach Addisons Verhaftung. Die Mutter der Mündel war bei dem Untergang eines Ozeanriesen ertrunken. Als Kapitän hätte Addison, mit der Aussicht auf einen ehrenvollen Tod, auf der Brücke bleiben müssen. Er aber hatte sich zur Rettung seiner Kinder hinreißen lassen und dabei gewaltsam das Prozedere des Vortritts von Frauen und Kindern unterbrochen.

Die Autorin erinnert daran, wem Nordamerika zuerst als gigantischer Jagdgrund diente. Hell‘s Gate war bereits für Akteure der First Nation ein Wahrzeichen des Unheils. Der Canyon bot als Nadelöhr und Schmalspur ideale Voraussetzungen für Hinterhalte. In der natürlichen Falle häuften sich die Überfälle. Der Durchgang war eine gespenstische Schädelstätte und Knochengrube.

1911 besucht Wallace eine Show des Flugpioniers Eugene Burton Ely, wenige Monate vor dessen tödlichem Absturz. In einem Curtiss-Doppeldecker verblüfft Ely das Publikum. Seine Nichte sieht 1927 die Flying Brayfogles. Trixie und Felix B. sind auf dem Weg nach Hollywood, wo sie sich als Stuntleute verdingen wollen.

„Andere Himmelsstürmer (waren) vor ihnen in der Stadt gewesen, hatten Rundflüge verkauft und Fallschirmsprünge vollführt.“

Doch erst die Brayfogles setzen Marian auf die Spur ihres Lebens. Ihre Schöpferin erzählt zwischendurch Geschichten aus dem Wilden Westen. Unter anderen berichtet sie von der Transition einer Kutenai, die nach einer ausgiebigen Begegnung mit Weißen zu der Überzeugung gelangt, ein Mann zu sein. Shipstead bezeichnet sie zunächst mit dem Namen jenes offensichtlich französischstämmigen Waldläufers, dessen Ehefrau sie wird, ohne sich indes an den Mann gebunden zu fühlen. Sie tritt erst als Madame Boisverd und dann als Gone-to-the-Spirits in Erscheinung.

Gone-to-the-Spirits billigt sich Zauberkräfte zu. Er macht Jagd auf Pferde und Skalps. Man identifiziert ihn als Berdache. Er sucht sich eine Frau, die ihm den Büffellederphallus abnimmt und in eine zufrieden stellende Nicht-Penetrationspraxis einführt.

1811 dient Gone-to-the-Spirits einem Trupp Abenteurer als Führer. Er erwirbt den Namen Sitting-in-the-water-Grizzly. Noch 1837 hört man von ihm in der Gegend von Missoula, wo keine hundert Jahre später die gleichfalls als Mann maskierte Marian (auch als Pfandflaschensammler*) für Aufsehen sorgt. Noch ein paar Jahrzehnte später projiziert Hadley Baxter ihre Sehnsüchte auf die Flugpionierin Marian.

Hadley riskiert ihre Hollywood-Superstar-Karriere, indem sie es wagt, als reale Person von ihrer Traumrolle abzuweichen. Man weist sie zurecht, wäscht ihr den Kopf, stellt sie unter Kuratel, und ist doch fasziniert von der Lebendigkeit eines (mit eigenen Ansichten vermischten) Kultobjekts. Hadley selbst sieht überdeutlich, wie leicht man sie „langweilig und abstoßend (und eben nicht) funkelnd und köstlich“ finden könnte.

„Ohne mich wärst du ein Nichts“, bramarbasiert die Erfinderin jener Hyperfigur, deren Verkörperung Hadley reich und berühmt gemacht hat.

„Ein Gesicht auf einer Brotdose, die niemand auf einem Flohmarkt kauft.“

Hadley kontert geschickt:

„Wann immer jemand deine Bücher liest … an wen denkt er dann wohl? An mich.“

Aus der Ankündigung

Marian Graves ist ein Wildfang von Kindesbeinen an. Im heimatlichen Montana sucht sie stets das nächste Abenteuer und scheut keine Gefahr. Besonders angetan hat es ihr das Fliegen – sie träumt davon, über den Wolken zu schweben. Aber um ihr Ziel zu erreichen, muss sie Hindernisse meistern und Opfer bringen. 1950 startet Marian den Versuch, als erste Person die Erde in der Längsachse zu umrunden. Doch in der Antarktis verschwindet sie und lässt nur ein Logbuch zurück.

2014 verkörpert die skandalerschütterte Hollywoodschauspielerin Hadley Baxter die Rolle der zum Mythos gewordenen Marian Graves und begibt sich auf die ganz eigene Spurensuche dieser ungewöhnlichen Frau.

Zur Autorin

Maggie Shipstead wurde 1983 in Kalifornien geboren und studierte Amerikanische Literatur in Harvard. Anschließend besuchte sie den berühmten Iowa Writers’ Workshop, wo Zadie Smith sie unterrichtete. Für ihr Debüt ›Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit‹ erhielt sie den Dylan Thomas Prize. ›Kreiseziehen‹ ist ihr dritter Roman, stand auf der Shortlist für den Booker Prize 2021 und ist für den Women’s Prize for Fiction 2022 nominiert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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