„Ich gehe ungern gegen den Wind“

Interview Oskar Aichinger erkundete in zahlreichen Spaziergängen seine Lebensumwelt. Herausgekommen ist ein literarisches Mosaik an Erlebnissen, für die es keine Fernreise braucht

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Wann beginnt für Sie ein Verreisen in der Stadt?
Das Verreisen beginnt, bevor ich losgehe. Manchmal werde ich zuhause unruhig, wenn ich zu einer gewissen Uhrzeit noch nicht draußen gewesen bin. Dann überlege ich, wohin es mich ziehen könnte. Ich schaue wie das Wetter ist, woher der Wind weht, und gehe los.

Welchen Einfluss hat das Wetter auf Ihre Spaziergänge?
Ich gehe ungern gegen den Wind. Und bei starkem Regenwetter zieht es mich nicht so hinaus.

Könnte aber genau diese Wetterlage Dinge offenbaren, die man sonst nicht anträfe?
Man sieht Dinge bei verschiedenen Wetterlagen unterschiedlich, das stimmt. Es kann also durchaus regnen beim Spazierengehen, aber es sollte eben nicht aus Kübeln schütten. Heute haben wir starken Südwind. Das ist meistens ein Zeichen dafür, dass das Wetter sich ändert. Da hat man dann oft eine sehr klare, fast unwirkliche Fernsicht.

„Wir leben in einer Leistungswelt“

Wie viele Menschen sehen von der Stadt, in der sie leben, so viel wie Sie?
Ich bin kein Statistiker, aber ich denke sehr wenige. Man geht mit der eigenen Stadt anders um, als mit fremden.

Warum wird der Heimatstadt so wenig Beachtung geschenkt?
Das hängt mit den Zwängen der Arbeitswelt zusammen, die sich immer mehr auch auf die Freizeit übertragen. Alles wird zu einer Leistungsfrage. Das Ziel ist wichtiger, als der Weg dorthin. Die Menschen nehmen ihre unmittelbare Umgebung weniger wahr, weil sie ständig am Leisten sind.

Fernreisen sind aber im Trend, die Menschen leben oft von Urlaub zu Urlaub. Warum diese Flucht vor zuhause?
Diese dauerhafte Flucht vor sich selbst, finde ich sehr, sehr schade. Die Menschen setzen sich nicht mit sich selbst auseinander. Sie gehen ihren Gedanken aus dem Weg; es ist ein ständiges Verdrängen. Ich versuche durch mein Buch dazu anzuregen, diesem Fluchtreflex nicht immer zu erliegen.

„Es gibt für mich keinen Weg zurück“

Wiederholende Besuche in einer Stadt werden mit Befremden wahrgenommen. Aber auch wenn ich zwanzig Mal in Wien war, habe ich die Stadt doch nie komplett wahrgenommen.
Das stimmt. Auch bei Wegen, die ich oft gehe, entdecke ich immer wieder Neuigkeiten. Eine Stuckatur oder ein sonnenbeschienene Ecke. Von der immer wieder wechselnden Konstellation an Menschen, ganz zu schweigen.

Sie kommen vom Land. Gibt es einen Weg zurück für Sie aufs Land?
Den Weg zurück gibt es nicht. Ich habe mich an das Leben in der Großstadt gewöhnt und nun bin ich hier fest verankert. Mit meinem Beruf als Musiker könnte ich auf dem Land nicht existieren.

Gehen Ihre Spaziergänge nur in Großstädten wie Wien?
Nein, sie können überall spazieren, aber eben nicht in der Anonymität, wie sie die Großstadt einem bietet. Auf dem Land wird schon schneller hinter der Gardine geschaut, wer da herumläuft.

„…bewaffnet mit einem Selfiestick“

Beansprucht Wien Beachtung?
Wien ist schon ein Darsteller seiner selbst. Das interessiert mich aber nicht.

Touristen besuchen Städte und schlussendlich haben sie nichts wirklich gesehen. Nur dass, was jedem Touristen als „Stadt“ präsentiert wird.
Das ist traurig, denn dieser Städtetourismus ist ein Massenphänomen. Die Ströme schieben sich durch die ausgetretenen Pfade der Tourismusindustrie – bewaffnet mit einem Selfiestick. Ich sah letztens einen Spruch an eine Wand gesprüht: „mass tourism is human pollution“. Dem schließe ich mich an und möchte nicht dazugehören.

Was ist für Sie ein gelungener Urlaub?
Urlaub ist für mich eine, wie wir hier sagen, Sommerfrische im Gebirge oder an einem See. Man liest viel, geht viel zu Fuß oder kommt mit den örtlichen Leuten ins Gespräch. Es gibt kein Programm…

„Sie werden mich nie im Charterflieger sehen“

…so versteht man Urlaub heute aber nicht…
Nein, heute muss alles eine Erlebniswelt sein. Das ist mir ziemlich zuwider.

Womit reisen Sie am liebsten?
Das hängt vom Ziel ab. Am liebsten fahre ich mit der Eisenbahn. Zu abgelegenen Orten nutze ich das Auto, aber im Charterflieger nach Mallorca werden Sie mich nie sehen.

Welche Schuhe tragen Sie bei Ihren Spaziergängen?
Ich mag diese Freizeitkleidungsmanie nicht. Die Schuhe müssen bequem sein, mehr nicht.

„Ich lasse mich nicht von der Dokumentation okkupieren“

Machen Sie sich Notizen?
Ich habe ein Notizbuch bei mir und setze mich hin und wieder hin, um Eindrücke festzuhalten. Auch Schnappschüsse helfen mir, mich zu erinnern. Aber ich lasse mich vom Dokumentieren nicht okkupieren. Viele Dinge fallen mir ein, die ich mir eben nicht notiert habe.

Wie schnell gehen Sie?
Schnell. Ich mag dieses ganz langsame Schlendern nicht.

Wollen Menschen Sie begleiten?
Einige wollen mit mir meine Wege nachgehen. Mit guten Freunden mache ich das; aber nicht als Fremdenführer. (lacht)

Hilft Ihnen das Gehen beim Denken?
Ja. Sicher ist es irgendwie biochemisch erklärbar, dass man beim Gehen seine Eindrücke besser aufnimmt.

Hören Sie Musik beim Gehen?
Nie. Ich kann mich dann nicht mehr auf das Gehen und die Eindrücke konzentrieren, denn als Berufsmusiker fokussieren sich dann meine Sinne automatisch auf die Musik.

Aber rauchen Sie während Ihrer Spaziergänge?
Nein. Nur danach, wenn ich einkehre und das Erlebte in Gedanken Revue passieren lasse.

„Der Text ist zuallererst nur für mich“

Haben Sie eine Routine, wohin Sie einkehren?
Ich habe keine feste Routine, aber ich überlege mir schon vorab, wo ich einkehren könnte. Aber wenn es nicht klappt, ist es auch nicht schlimm.

Hattet Sie schon mal eine Art Erleuchtungserlebnis auf einem Spaziergang?
Wenn man kompositorische Einfälle oder Liedertexte als Erleuchtungserlebnisse bezeichnet, dann ja. Ich habe schon Einiges, was beim Gehen in mir aufsteigt, in meinen Stücken weiter verarbeitet.

Treffen Sie auf andere Lebensrealitäten?
Ja, zum Beispiel, wenn ich in Gasthäuser einkehre, in denen ich der einzige Ausländer bin. Zuerst schlägt einem Skepsis entgegen. Wenn man aber nicht gleich abhaut, kann man Teil der Gemeinschaft werden.

Sie sind Berufsmusiker. Wie wurden Sie nun zum Autor?
Das war nie beabsichtigt. Nachdem ich so viel gesehen und notiert hatte, wollte ich sehen, ob es für einen längeren Text reicht. Freunde bestärkten mich dann und ich schickte es an fünf Verlage. Es ändert aber nichts daran, dass ich den Text zuallererst für mich geschrieben habe.

Ich bleib in der Stadt und verreise: Oscar Aichinger, Picus Verlag, Wien 2017, 20€

Oskar Aichinger, Jahrgang 1956, in Oberösterreich aufgewachsen, studierte Montanistik in Leoben und Musik am Mozarteum in Salzburg. Seit 1990 als Pianist tätig, zahlreiche Veröffentlichungen. Lebt und spaziert in Wien. www.oskaraichinger.at

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