Meisterwerk(er)

Reise Christoph Peters legt mit Tage in Tokio ein Meisterwerk der atmosphärischen Reisebeschreibung vor. Für die Lesenden kann es viel Erkenntnis bedeuten

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Säcke mit getrockneten japanischen Grünteeblättern
Säcke mit getrockneten japanischen Grünteeblättern

Foto: Charly Triballeau/AFP/Getty Images

Musikhinweis: Jeff Buckley Hallelujah

35 Jahre beschäftigte sich Christoph Peters mit Japan und seiner Porzellankultur. Doch dort gewesen war er bisher nicht. Eine Besonderheit in der heutigen Zeit, in der (Corona mal ausgenommen) fast jeder sich dazu berufen fühlt, die Welt zu bereisen. Die Fähigkeit zum Erkenntnisgewinn sei bei diesen vielen Erfüllungsreisen dahingestellt. Einem Menschen wie Peters, der am liebsten sein Arbeitszimmer nicht verlassen würde, muss man besonders Gehör schenken, denn es bedeutet, das ihm die Empfindung durch völlige Überreizung in der Außenwelt noch nicht abhanden gekommen ist. Doch was empfindet ein fühlsames Subjekt, wenn es nach so langer Zeit der theoretischen Beschäftigung mit etwas, dann doch in die begehrte Objektlandschaft gelangt. Träume sind deshalb gerade so reizvoll, weil ihre Umsetzung in aller Regel nicht einfach mal so gemacht ist. Die Erfüllung von Träumen und Wünschen kann auch in eine Paradoxie der Erfüllung (vgl. hierzu Martin Seel) führen. Statt einem satten Wohlgefühl kann sich eine manifeste Enttäuschung einstellen. Die innere Wirklichkeit des Antizipierten und die Realerfahrung der vor Ort für das ankommende Individuum herrschenden Wirklichkeit können jäh differieren. Literatur wie die von Haruki Murakami funktioniert wohl deshalb so sehr in der westlichen Welt, weil sie das irreale, das Changieren zwischen Traum und Wirklichkeit so selbstverständlich in eine indikative Handlung einbaut.

Keine Reiseliteratur

Allen Lesenden von Reiseliteratur sei dieses zweihundertfünzigseitige Buch mit Vorsicht angeraten, denn es ist eben keine gefällige Berichtsstatur mit coolen Tipps und hippen Trends. Doch was die japanische Kultur auszeichnet, die Atmosphäre, die Feinheit der Wahrnehmung schafft Peters in herausragender Weise einzufangen. Wie ergeht es ihm als „Sehenden“ in einer solch fremden Kultur, deren Überlieferungen gen Westen er Wohlgefallen gegenüber empfand, doch nun vor Ort feststellen muss, dass es viel leiser ist, als er erwartete. Dass es mitnichten an jeder Ecke guten Tee gibt, sondern jedwede Derivate von Starbucks und Co. Dass er zum Rauchen nicht auf den Balkon seines gemieteten Zimmers bei der streng-legeren Frau Oksasaki (einer ehemaligen JAL-Stewardess) gehen kann, sondern mehrere Straßen weiter an einen Rauchplatz wie man ihn aus Deutschland von den Bahnsteigen im Zugverkehrkehr kennt stehen muss. Dass die U-Bahn mitnichten so voll ist, wie er es dachte. Mit "sumimasen" erlebt Peters die defensive Generalhaltung der meisten Japaner wenn sie den Eindruck haben, jemanden zu nahe getreten zu sein, obgleich ihnen im Zweifelsfall der andere sogar die Vorfahr genommen hat. Es wird sich entschuldigt im vorauseilenden Gehorsam. Und auch die Höflichkeit erlebt Peters in einer Art der authentischen Hingabe für das Gegenüber statt als westlich kritisierte Form erodierter Verhaltensweisen ohne inneren Kern der ausdrückenden Existenz. Peters schafft sich neben dem Rauchplatz (nota bene: ein Mensch der zum Rauchen steht, selten) das Café de Crie als Basislager für seine Wanderungen durch die im Vergleich zu deutschen Städten riesigen Ansammlungen von Menschen und Gebäuden. Auch dort weiß die Kellnerin alsbald seine Vorliebe für den doppelten Espresso und wenn er Polizisten nach dem Weg fragt, bringen sie ihn gleich hin.

Reise mit leiser Präsenz

Es ist anzunehmen, dass ein jedes Subjekt die Welt in einer gänzlich individualisierten Wirklichkeit wahrnimmt (vgl. hierzu Irvin D. Yalom und seine existentielle Psychotherapie oder Paul Watzlawick: Wie wahr ist die Wirklichkeit) und dadurch das Erleben von Resonanz (vgl. hierzu Rosa: Resonanz) sich auch in Gänze anders in der Rezeption ausnimmt. Vielleicht erlebt der sanfte und wahrnehmende Peters eben deshalb so eine Form von ausgewogener Annahme seiner durchaus fremden Person in dieser Ferne, weil er auf die Menschen in einer akzeptierbaren Form zugeht. Für viele Menschen ist das Reisen ein obligater Bestandteil ihres Lebens geworden. Für wohl noch mehr, der einzige Ausgleich zum arbeitsdominierten Leben. Aber so sehr in der Arbeitswelt der Imperativ der Leistung gegen die Menschen geht, so sehr geht er beim Reisen dann nach extern. Die ausgesuchte Region wird bereist (basta!), es hat sich beiderseitige Freude und Gastfreundlichkeit einzustellen. Wenn man Touristen beobachtet, versteht man, warum diesen im Zweifelsfalle nicht so aufopfernd geholfen, nicht so herzlich zugehört wird wie Peters: sie setzen es a priori einfach voraus. Eigentlich sind sie als Reisende sogar schon mehr vor Ort zuhause als die, die eigentlich beim Bereisen im Weg stehen. Reisen ist sicher im sehr abstrakten Sinne eine Form des Eroberns, des Abringens von Räumen für eine mehr oder minder ausgeweitete Zeit. Peters nimmt diesen Raum aber in Stille und Ehrfurcht ein und säht damit etwas, was Erleben der annähernden örtlichen Wirklichkeit vielleicht erst möglich macht: Frieden. Der Text mäandert still (vgl. hierzu Erling Kagge: Stille), mit leisen, kleinen Schritten daher. Er wird nie laut oder klirrend. Überall liegt ein leichter Nebel zwischen den Zeilen. Wie ein ruhiger Spaziergang durch den Park nach einem Regen. Beim Lesen breitet sich ein ähnliches Gefühl aus, wie in einigen Phasen des Lockdowns: endlich mal Ruhe. Endlich nicht diese pflichtgetriebenen Erledigungsbürger:innen, die alles niedertrampeln auf dem Heilandsweg des Konsums.

Wann die Dinge geschehen

Peters Leidenschaft für Tee (siehe hierzu Christoph Peters: Diese wunderbare Bitterkeit. Leben mit Tee) ist allgegenwärtig, noch mehr seine Liebe und Hingabe für Porzellan japanischer Herkunft. Letzteres ist bisweilen mit etwas viel Tiefgang ausgeführt (Teeschalenkunde frei Haus innerhalb des Textes), was dem allgemeinen Lesenden doch etwas viel Hingabe für etwas abverlangt, was er vielleicht bisher gar nicht kannte. Stark wird Peters aber immer wieder, wenn er die Existenz der Dinge und deren Einbindung in den Fortgang der Zeit filetiert. Warum bricht genau in dem Moment das Porzellan auseinander? (Die Sezierung der Genese des Teeschalenbruchs ist grandios aufbereitet) Was bedeutet es, als empfindender Mensch auf die Straße zu gehen und sich einer ungeplanten Anzahl an Fremdbegegnungen in einer Metropole entgegenzustemmen? Wieso ist die Kriminalität eine ganz andere als in Europa und dennoch vorhanden?

Was bedeutet Erleben?

Alles möglich gemacht hat dies Thomas Brussig, so Peters, der ihn nach Tokio an die Keiō-Universität als writer in residence vermittelt hat. Wahrscheinlich ein gleiches Prinzip wie an der Villa Massimo in Rom. Peters nimmt uns mit in eine Teeschalenausstellung, einen Boxkampf oder auch ein Zusammentreffen mit einer Angestellten und ihrem Chef in einem Sushi-Restaurant. Ergänzt wird der Text durch Fußnoten, die in der Länge an solche von David Foster Wallace (z.B. in Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich) erinnern. Wenn man sich überhaupt an einem Werk eines Menschen etwas wünschen könnte, wäre es schön gewesen, Peters hätte seine Lesenden noch etwas weiter, vielleicht fünfzig Seiten weiter an die Hand seines Erlebens mitgenommen. Denn neben der famos beschriebenen Ankunft, wäre das Erleben des Abschieds aus Sicht Peters vielleicht ein Gewinn gewesen - vergleichbar mit dem Timbre, dem REMs Leaving New York innewohnt.

Am Ende des Buches fragt man sich, was man mit Peters erlebt hat. Gab es die herausragende Handlung, gab es wilde Erlebnisse? Oder gar eine Reisebegründung für die Lesenden? Nein, ganz und gar nicht. Doch genau das ist Peters Stärke. Er muss keine Handlung generieren, keine Erzählbälle springen lassen, muss niemanden überzeugen um etwas zu erreichen, was Literatur schaffen kann: Atmosphäre lesbar machen.

Arigatou, Christoph Peters!

Darauf noch eine Musik: Kyu Sakamoto mit Sukiyaki

Christoph Peters: Tage in Tokio. Luchterhand Verlag, 16€

Mit gelungenen Zeichnungen von Matthias Beckmann.

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