Ein großes Vermächtnis

Nachruf Mit dem Tod von Max Mannheimer ist eine wichtige Stimme der NS-Zeitzeugen verstummt. In zahlreichen persönlichen Gesprächen gab er den Nachgeborenen eine Aufgabe mit
Ausgabe 39/2016
Max Mannheimer (1920-2016)
Max Mannheimer (1920-2016)

Foto: Stefan M. Prager/imago

Fünf blassblaue Ziffern, 99728, darunter noch ein Dreieck. Diese Tätowierung trug Max Mannheimer auf seinem Unterarm. Sie kennzeichnete ihn als Auschwitz-Überlebenden. Die Zahlen wurden den Häftlingen bei der Ankunft im Lager eingeritzt, um sie nach ihrem Tod identifizieren zu können. Mit dem Dreieck unterschied man die Juden von den anderen Gefangenen. Als ich Mannheimer vor drei Jahren in seinem Bungalow in einem Münchner Vorort besuchte, zeigte er mir die Ziffern. Unaufgeregt schob er den Ärmel seines weißen Hemds hoch, nüchtern, dokumentarisch, erklärend. Weil er es als seine Pflicht ansah, den Nachgeborenen gegenüber Zeugnis abzulegen. Und weil er wusste, dass nichts eine bleibendere Wirkung hinterlässt als der persönliche Eindruck.

Genauso nüchtern, wie er die blauen Zahlen zeigte, sprach er über die Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1943. Fast emotionslos, sich auf die Fakten konzentrierend. Da war nichts Anklagendes in seinen Worten, nur der Wunsch, gegen das Vergessen anzukämpfen. In dieser Februarnacht kam Mannheimer, 22 Jahre alt, mit seiner Familie in Auschwitz an. Seine Eltern, seine Schwester und seine Ehefrau wurden an der Rampe nach rechts geschickt, er sah sie nie wieder. Auch zwei seiner Brüder überlebten den Holocaust nicht. Nur Mannheimers jüngster Bruder und er selbst wurden nach einem Todesmarsch im April 1945 in Bayern von den US-Amerikanern befreit. Da wog Mannheimer noch 37 Kilo.

Langes Schweigen

Wer ihn als ruhigen und genauen Erzähler der Shoa erlebte, aber auch als Gesprächspartner voller Witz und politischem Interesse, konnte sich nur schwer vorstellen, dass er Jahrzehnte über das Erlebte geschwiegen hatte. Welche Überwindung es ihn gekostet hatte, sich aktiv und immer wieder vor zahlreichen Zuhörern an die Zeit zu erinnern, kann man nur erahnen. In seinem Buch Drei Leben (dtv) erzählte er vom Holocaust, aber auch von den Lebenskrisen danach. Und er berichtete, wie er erstmals sein Schweigen brach: Bei einem Krankenhausaufenthalt in den 60ern dachte er irrtümlicherweise, er sei todkrank. In wenigen Tagen schrieb er für seine Tochter, mit der er noch nie darüber gesprochen hatte, daher die Erinnerungen an Auschwitz auf. Sie wurden Jahre danach unter dem Titel Spätes Tagebuch veröffentlicht.

Im Juli starb Elie Wiesel, nun am 23. September mit Mannheimer eine weitere bekannte Stimme der Auschwitz-Überlebenden. Es bleiben die Bücher und Dokumentarfilme, in denen die Zeitzeugen erzählen. Verloren geht die Erfahrung, einem Menschen gegenüberzusitzen, der Spuren des Grauens auf dem Körper trägt und die Erinnerungen tief in sich. Wer sich mit Max Mannheimer unterhielt, der wusste, wie hohl immer wieder laut werdende Forderungen sind, dass es mal gut sein müsse mit der Erinnerung an deutsche Schuld. Und er verstand, dass aus diesem Wissen eine Aufgabe erwächst.

Die Aufgabe der Nachgeborenen

In Zeiten, in denen Rechtsaußen-Politikerinnen den Begriff „völkisch“ wieder positiv besetzen wollen und CDU-Bundestagsabgeordnete mit "Umvolkung" NS-Vokabular herumtwittern, kann man nicht oft genug daran erinnern, wie dünn die Decke der Zivilisation ist. Und dass die Ausgrenzung von Menschen mit der Sprache beginnt. Mannheimer sagte seinen Zuhörern, viele von ihnen Schüler, immer wieder: "Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht." Das ist sein Vermächtnis. Es ist die Aufgabe von uns Nachgeborenen, ihm gerecht zu werden.

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