Wann ist ein Leben wertvoll?

Debatte Die TV-Moderatorin Monica Lierhaus hat mit einem Interview Menschen mit Behinderung verärgert
Ausgabe 30/2015
Monica Lierhaus auf einer Musical-Premiere
Monica Lierhaus auf einer Musical-Premiere

Foto: Oliver Hardt/AFP/Getty Images

Es ist eine tragische Geschichte, an der die Öffentlichkeit seit Jahren teilnimmt: Im Januar 2009 unterzog sich die Fernsehmoderatorin Monica Lierhaus einer Operation zur Entfernung eines Gehirn-Aneurysmas. Es kam zu Komplikationen, sie lag vier Monate im künstlichen Koma. Nach langwierigen Reha-Maßnahmen lernte sie wieder zu sprechen und zu gehen, doch noch heute hat sie mit Einschränkungen zu leben. Vor kurzem interviewte das Redaktionsnetzwerk Deutschland die Moderatorin, es ging auch um ihre Entscheidung für die OP. „Ich glaube, ich würde es nicht mehr machen“, stellte Lierhaus fest. Auf den Einwand, dass sie ohne OP gestorben wäre, antwortete die Moderatorin: „Egal. Dann wäre mir vieles erspart geblieben.“

Sofort wurde Kritik an Lierhaus’ Aussage laut. Insbesondere die Reaktion der Journalistin Christiane Link schien vielen Menschen mit Behinderung aus der Seele zu sprechen: „Wer täglich gegen das Vorurteil kämpft, dass das Leben mit einer Behinderung nicht lebenswert oder zumindest bemitleidenswert sei, dem hat Monica Lierhaus einen Bärendienst erwiesen.“ Die frühere Piraten-Politikerin und gehörlose Aktivistin Julia Probst stimmte Link zu: „Lierhaus vergisst, dass öffentliche Menschen wie sie Verantwortung haben. Sie zeichnet ein falsches Bild von Menschen mit Behinderung.“ Es gab aber auch schnell Gegenstimmen, die eine Hetzjagd auf Lierhaus ausmachten: Die Kritik an der Fernsehmoderatorin zeuge von fehlender Sensibilität und Unverständnis. Die Heftigkeit der öffentlichen Diskussion verdeutlicht auch die Brisanz der zugrundeliegenden Frage: Was macht ein Leben eigentlich lebenswert?

„Der Fall Lierhaus zeigt deutlich, dass Nichtbehinderte am kräftigsten applaudieren, wenn ,Lieber tot als behindert‘ gesagt wird“, twitterte Julia Probst als Reaktion auf Lierhaus' Aussagen. Der Vorwurf ist eindeutig zugespitzt, aber hat er vielleicht einen wahren Kern? Statistiken zufolge entscheiden sich 90 Prozent der Eltern, bei deren ungeborenem Kind Trisomie 21 festgestellt wird, für eine Abtreibung. Der Bioethik-Professor Prof. Dr. med. Giovanni Maio brachte in diesem Zusammenhang seine Befürchtung zum Ausdruck, dass es in wenigen Jahrzehnten keine Menschen mit Trisomie 21 mehr geben werde.

Auch bei der Diskussion um Sterbehilfe spielen Behinderungen und Pflegebedürftigkeit eine Rolle. Ein Suizid wird meist anhand der Motive bewertet, was sich auch sprachlich niederschlägt: Im Freitod steckt die Freiheit der Selbstbestimmung – während im Selbstmord die Verwerflichkeit des Mordes mitschwingt. Einen Suizid aus Liebeskummer oder wegen schlechter Schulleistungen würden viele Menschen wohl als „unvernünftig“ bewerten, wohingegen Behinderungen und Pflegebedürftigkeit als tendenziell nachvollziehbare Gründe wahrgenommen werden. Internationale Behindertenorganisationen wie Not Dead Yet kämpfen daher gegen aktive Sterbehilfe und Euthanasie, welche sie als „tödliche Formen der Diskriminierung alter, kranker und behinderter Leute“ sehen. Allen Inklusionsbemühungen zum Trotz werden Begriffe wie „behindert“, „Spastiker“ oder „Krüppel“ im Alltag bis heute als Schimpfworte gebraucht.

Dass Menschen, die mit ihren jeweiligen Handicaps ein glückliches, erfülltes Leben führen, Lierhaus’ Aussage kritisieren, ist höchst verständlich und legitim. Nichtsdestotrotz kann man Frau Lierhaus vielleicht auch danken: Mit ihren Worten hat sie – wenn auch wohl unbeabsichtigt – eine ohnehin überfällige Diskussion über den Umgang mit behinderten Menschen in der Gesellschaft verbreitert und beschleunigt.

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Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

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