Empörung reicht nicht - Politisiert Euch!

Literatur Kai Pohls neues Buch ist Radikalpoesie, eine Poesie der radikalen (Bild-)Schnitte und Desillusionierung, die den Blick auf die Gegebenheiten schärft

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Empörung reicht nicht - Politisiert Euch!

Bild: Cover

1964, als Kai Pohl geboren wurde, war ich zehn Jahre alt und hatte schon eine Weltanschauung intus, nebst Begleiterscheinungen, einer gewissen vorpubertären Trunkenheit ob der Versprechungen einer „Welt von Morgen“, einer Zukunft, die nur glänzend sein konnte, und dieser Glanz rührte weder vom Meer her, noch war es einer von innen …

Politisiert Euch könnte man Kai Pohls neue Arbeit „1964 oder Das marktkonforme Schweigen der Seele des männlichen Machtsubjekts“ übertiteln, die von den Ungeheuerlichkeiten der neoliberal geprägten kapitalistischen Gegenwart spricht, von unseren Verstrickungen darin und dem mehr oder weniger bewußten Reproduzieren entsprechender Strukturen. In bei Pohl schon bewährter Weise stellt sie eine Kompilation aus zum Teil abgewandelten Zitaten, Versatzstücken und persönlichen Einlassungen dar und ist auch geeignet, das Diktum gewisser Feuilletonisten, die zeitgenössische deutschsprachige und zumal junge Literatur sei belanglos, zu sehr auf sich selbst fixiert, ad absurdum zu führen.

Dem Autor gelingt der Spagat zwischen der Poetisierung und Politisierung der Räume, des Denkens, der Erinnerungen, des Privaten, wobei es sich eigentlich gar nicht um einen Spagat, sondern vielmehr um zwei Seiten einer Medaille handelt. Vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen wie etwa der TTIP-Verhandlungen, der Versuche, demokratische Bürger- und Grundrechte in Hinblick auf den Flüchtlingszustrom oder eine potentielle Bedrohungslage (Terroristen) auszuhebeln, muß man Pohls Abriß seines Aufwachsens und Werdens in der Bundesrepublik als zoon politikon wie Machtsubjekt einfach politisch lesen. In „my degeneration“ haben Kai Pohl und Kombattanten den neoliberalen Neusprech analysiert, mithilfe eines dichterischen Übersetzungsverfahrens, das seriell angelegt ist. Der vorliegende Band liefert gleichsam den geschichtlichen wie gegenwärtigen, aber auch subjektiven Kontext dazu, geht dabei bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Und eröffnet einen philosophisch grundierten Diskurs, mit Sätzen, die sentenzartig sind und „Merksätze“ darstellen könnten. Eher sind es verschiedene Diskurse, die hier literarisch reflektiert werden und einen gemeinsamen Nenner haben, z.B. die Frage, wie bewegt sich, wie lebt Mensch in einer Gesellschaft, die mehr und mehr marktförmig organisiert wird, in der der Mensch nur noch etwas gilt, wenn er sich der Vermarktungslogik unterwirft und so zwangsläufig diese Strukturen mit reproduziert? Was macht das mit, was aus uns? Das Sprechen über ein Proletariat scheint obsolet, der Begriff greift hier nicht mehr, angesichts der unüberschaubaren Zahl angefixter Selbstausbeutungs-Subjekte beispielsweise in der Kultur- und Kreativwirtschaft, denen das Maß an Entfremdung im Produktions- wie Lebensprozess im Geiste des Neoliberalismus als Selbstverwirklichung und Freiheitsgewinn angeprießen wird. Und die an dieser und jener Stelle auch so erfahrbar sind …

Der dritte Teil bildet eine Art Abrechnung mit den verinnerlichten Zuschreibungen/ Wertigkeiten der kapitalistischen Wirklichkeit. Pohl läßt Fixpunkte der jüngeren deutsch-deutschen und der Weltgeschichte Revue passieren, in die er die des literarischen Subjekts eingeflochten hat. Der unvollständigen Chronik des Jahres 1964 wird eine wahre Geschichte beigestellt, als Niederschrift, die dessen Vater in einer Flaschenpost aufgefischt haben soll. Diese stellt die Beschreibung eines Endzeitszenarios dar, in dem Flüsse und Meere verseucht sind, das Gros der Lebewesen ausgestorben. Und so weit entfernt von unserer Gegenwart ist das nicht, angesichts vermüllter Meere, kaum noch rückgängig zu machender klimatischer Veränderungen, schwindender Ressourcen, sich ausbreitender unfruchtbarer Zonen (Böden): … „der Hunger wuchs proportional zu den wachsenden Erträgen der Landwirtschaft“ heißt es an einer Stelle, mit der er das Dilemma treffend umreißt – während wir hier in der an den sogen. westlichen Werten orientierten Welt Überschüsse generieren, mit denen wir nichts anzufangen wissen. In den 60/70er Jahren kippte man die einfach ins Meer, heute überschwemmt man die Märkte in Afrika damit, sodaß die Subsistenzwirtschaften vor Ort kaputt gehen. Pohl spricht aus der Perspektive einer Generation, die dem Credo der konsumorientierten Welt, ihren Zukunftsversprechungen nicht mehr gläubig zu folgen gewillt ist, der dies alles nur noch absurd erscheint. (S. 19) Da spielt auch das Vergessen-wollen, das sich aus der eigenen Wirklichkeit Hinausbewegen eine Rolle: ich möchte einmal wie ein Tier in die Wolken starren, in keiner Sprache zuhause sein (S. 8). Aber die Stadt faselt weiter […] es ist unmöglich, den gemischten Chor der Maschinen vom Lärmen der inneren Furien zu unterscheiden (S. 8). Schreibt sich hier das Lenz’sche Ungenügen an der Wirklichkeit fort, eine Reminiszenz gar an Rilkes zivilisatorischer Kritik: doch die Stadt will nur das ihre (…). Fluchtwunsch …

Ein Manifest, eine Abrechnung, da geht es um die vom ausbeuterischem Verhalten zu verantwortende Klimakrise, wobei „Krise“ im Politikersprech als ein die Ursachen bemäntelnder Begriff gesehen werden kann, denn vielmehr haben wir es mit den Folgen menschlichen Wirkens, der Produktions-, Eigentums- und Arbeitsverhältnisse, die in den Gesellschaften vorherrschen, zu tun. Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um Mißverständnisse in die Welt zu setzen schreibt Pohl so hellsichtig wie ironisch (S. 28), und an diesem Punkt setzt er mit seiner Arbeit an. Sprache spiegelt Machtverhältnisse nicht nur wider, sondern „begründet“ sie auch. Womit wir es also zu tun haben …

1964 oder Das marktkonforme Schweigen der Seele des männlichen Machtsubjekts, Kai Pohl, Distillery #42, 36 S., Berlin 2015. 7,00 €

Der Beitrag ist zuerst am 22.01.2016 auf Signaturen-Magazin.de erschienen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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