Kino In „Mein Sohn, der Soldat“ erzählt der französische Regisseur Mathieu Vadepied vom Ersten Weltkrieg aus der Perspektive eines senegalesischen Vater-Sohn-Paares, das zwangsrekrutiert wurde
Um den 17-jährigen Sohn zu befreien, meldet sich der Vater freiwillig
Foto: Marie-Clémence David
Die Geschichtsschreibung bestimmt, wer am längeren Hebel der gesellschaftlichen Machtverhältnisse sitzt. Da verwundert es nicht weiter, dass in popkulturellen Erzählungen über den Ersten Weltkrieg, die gerne auch als patriotisch imprägnierte Helden-Geschichten überliefert werden, ein eurozentrischer Blick dominiert. Sam Mendes erzählte in 1917 eine auf Spektakel setzende Heldengeschichte aus englischer Perspektive, ebenso Peter Jackson, der in They Shall Not Grow Old mittels experimenteller Restauration Bildmaterial und O-Töne von britischen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg digital nachkolorierte und bearbeitete. Der deutsche Klassiker Im Westen nichts Neues nach Erich Maria Remarque, zuletzt als maschinelles Tötungsspektakel von Edward Berger
gsspektakel von Edward Berger verfilmt, handelte von der Desillusionierung einer für die Front angespitzten, leichtgläubigen Jugend. In Stanley Kubricks Klassiker Wege zum Ruhm drehte ein überehrgeiziger französischer General frei.In diesem filmhistorischen Kontext eröffnet Mathieu Vadepied mit seinem Drama Mein Sohn, der Soldat eine neue Perspektive für das populäre Kino. Mit Omar Sy in der Hauptrolle, dem Star aus dem Publikumsliebling Ziemliche beste Freunde, erzählt der Film von zwei Senegalesen, die von der französischen Kolonialmacht zwangsrekrutiert werden. Die fiktive Geschichte ist an reale Ereignisse angelehnt; die Franzosen stellten erstmals 1857 „Tirailleurs sénégalais“ auf, ließen sie in den damaligen Kolonialgebieten ihren Dienst verrichten und setzten sie sowohl im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg ein. Erst 1964 wurde die letzte Einheit aufgelöst.Eingebetteter MedieninhaltMein Sohn, der Soldat beginnt 1920 in der Umgebung von Verdun. „Mein Gott, was habe ich getan?“, fragt eine Stimme aus dem Off, während Gebeine ausgegraben werden. Schnitt nach Senegal, 1917. Die Sonne leuchtet über der Steppe, auf der Thierno (Alassane Diong) und sein Vater Bakary (stark: Omar Sy), Rinderhirten vom Stamm der Fulbe, sich um ihre Tiere kümmern. Es dauert nicht lange, bis sich die Ereignisse überschlagen: Thierno gerät in die Fänge von Zwangsrekrutierern der französischen Armee, die menschlichen Nachschub für den Stellungskrieg suchen. Um den 17-jährigen Sohn zu befreien, meldet sich Bakary freiwillig. Doch die Flucht aus dem Lager nahe der Heimat misslingt, die beiden landen in einem das „Loch“ genannten Kerker im Lehmboden und finden sich bald auf dem Weg an die Front.Die Kontexte und Topografien, durch die Vater und Sohn unter Zwang geschleust werden, werden nicht weiter erläutert. Auch hält sich der Film nicht mit Bildern von der Ausbildung oder Ähnlichem auf. Der schnelle Weg an die Front vermittelt ein Stück weit das Gefühl der beiden, nicht zu wissen, wie ihnen geschieht, weil man als Zuschauer ebenfalls orientierungslos bleibt.Die Perspektivverschiebung, die Regisseur Vadepied nach einem mit Olivier Demangel verfassten Drehbuch vollzieht, ist eigentlich eine doppelte: Mein Sohn, der Soldat trägt die bereits erwähnte postkoloniale Brille, andererseits beschäftigt sich der Film weniger mit dem gnadenlosen Stellungskrieg und der Brutalität in den Laufgräben, wie man das aus unzähligen Filmen zum Ersten Weltkrieg kennt, als mit dem komplexen Vater-Sohn-Verhältnis.Während Bakary nach Wegen sucht, um seinen Sohn und sich in Sicherheit zu bringen, leckt Thierno gewissermaßen Blut. Er lässt sich von Lieutenant Chambreau (Jonas Bloquet), seinem so antihierarchisch denkenden wie von Ehrgeiz zerfressenen Vorgesetzten, einlullen. „Wir leben gemeinsam, essen gemeinsam, kämpfen gemeinsam, sterben gemeinsam“, sagt er. Die Heeresführer locken mit dem Versprechen, dass man nach der Schlacht um den Hügel, den es zu erobern gilt, nicht mehr „Eingeborener“, sondern Franzose sei.Thierno wird zum Korporal, dann zum Sergeant befördert, weil seine Vorgänger wie die Fliegen sterben. Das lässt auch die Situation zwischen Vater und Sohn aus dem Ruder laufen, weil Thierno nun über seinem alten Herrn steht und ihm Befehle erteilen muss.Man kann Mein Sohn, der Soldat vorwerfen, dass Sohn Thierno bei alledem etwas blass bleibt. Und auch, dass der Film, obwohl Gewalt gezeigt wird, eine für ein größeres Publikum doch eher weichgespülte Version des unfassbar grausamen Kriegsgeschehens erzählt. Wobei der Film dadurch wenigstens nicht in die gleiche Falle wie Bergers Im Westen nichts Neues tappt, der vorgab, kein Spektakel in dem Grauen zu suchen, dies aber durch die ausführliche, explizite, serielle Darstellung von Sterben aller Art dennoch tat. Dass Vadepied es trotz seiner Konzentration auf die senegalesischen Helden in seinem Film verpasst, im kolonialen Habitus der Franzosen einen größeren historischen Rahmen abzustecken, kann man ebenfalls als Versäumnis empfinden.Dennoch liefert Mein Sohn, der Soldat eine neue Perspektive, die zu Diskussionen anregt. „Erinnert euch an mich. Erinnert euch an uns“, sagt Bakary aus dem Off: ein Aufruf, sich mit den kolonialen Verbrechen auseinanderzusetzen. Und was, wenn im Grabmal des unbekannten Soldaten unter dem Triumphbogen, das der verschollenen Gefallenen des Ersten Weltkrieges gedenkt und den Heldenmythos „eines Mannes des Volkes“ zelebriert, die Gebeine eines Tirailleure liegen? Eine vieldeutige Frage, die der Film auch stellt.Placeholder infobox-1
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