Essen 5.0

Der Koch Mit Algenanzug und Gewächshaus am Leib: eine Ausstellung thematisiert die Zukunft der Ernährung, „Food-Fiction“ sozusagen
Ausgabe 26/2018

Die haben’s gut, denke ich, als ich die Stufen zum Kunstgewerbemuseum am Kulturforum hochsteige. Für die Berliner Straßenbäume ist der trockene Sommer ein Stresstest, schon beginnt das wenige Laub zu welken – und hier hängen die Obstbäume am Tropf. Neben jedem Apfelbäumchen steht ein Ständer, aus Infusionsbeuteln läuft grüne Flüssigkeit über einen Schlauch ins Erdreich. Es ist ein sehr ambivalentes Bild, das einen vor der Ausstellung Food Revolution 5.0 empfängt, sie läuft noch bis Ende September. Muss die Natur auf die Krankenstation, damit wir uns in Zukunft noch ernähren können?

Die Zukunft der Ernährung, sozusagen „Food-Fiction“, das ist das eigentliche Thema der Schau. Denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Was und wie wir essen, geht auf Kosten des Planeten, der hohe Fleischkonsum, der massive Düngemittel- und Pestizideinsatz in der Agrarindustrie.

Auf drei Etagen sind mehr als 30 Werke von Künstlern und Designern ausgestellt, mit sehr unterschiedlichen Antworten, einige lakonisch-spielerisch, andere bitterernst, alle aber – und das fällt dann doch auf: sehr politisch. Utopische und dystopische Entwürfe wechseln sich ab.

Vor dem Algenanzug beispielsweise kann einem richtig gruseln: Ein Gewirr von Schläuchen ist das, die man sich wie einen Hoodie über den Oberkörper stülpt. Die Algen darin verrichten allein aufgrund der Sonneneinstrahlung ihre Arbeit, das Phytoplankton wird über einen Katheter direkt in den Magen des Trägers geführt. Jeder mit dem eigenen Gewächshaus am Leib, nach diesem Farm-to-Stomach-Prinzip wäre die menschliche Ernährung wahrscheinlich für alle Zeiten gesichert. Aber was wird aus dem Kulinarisch-Lukullischen? Was aus dem Koch? Und was aus Wasser und Land, wenn sie kein Essen mehr liefern müssten, nicht mal mehr Genmais oder Zuchtlachs?

Und ganz so irre Science-Fiction ist das gar nicht. Algen werden längst in Bioreaktoren eingesetzt, um Solarenergie zu bündeln, nur die Schnittstelle zum Verdauungstrakt fehlt noch. Künstliches Fleisch aus dem 3-D-Drucker: An der Vision arbeiten Startups in Kalifornien und Israel. Und ist die Idee so verwegen, Hühnern im Massenstall Virtual-Reality-Brillen aufzusetzen und ihnen eine artgerechte Umgebung vorzuspiegeln? Wir finden es ja auch nicht unnatürlich, dass der Mensch sein Leben immer stärker in die Virtualität verschiebt.

Am längsten aber stand ich vor einer Arbeit, die tatsächlich reine Fantasterei ist. Sie untersucht den menschlichen Körper als Nahrungsquelle für andere Arten. Wie können wir zurückgeben, was wir nehmen, nicht nur, indem wir Blut für Mücken liefern oder Hautpartikel für Doktorfische? Die Macher des Center for Genomic Gastronomy in den USA haben ein experimentelles Restaurant entworfen, in dem Menschen ihr Leben lang bis zum natürlichen Tod und auf verschiedenen Ebenen Tieren zum Melken und Anknabbern angeboten werden. Das Ganze in schöner Umgebung und wie ein Wellnesstempel konzipiert, Pools und Lounges inklusive: Gäbe es dieses Lokal, ich würde mich sofort als Proband melden.

Es ist eine Ausstellung, die zeigt, Essen ist längst keine Privatsache mehr. Und das Problem ist so groß, es gibt keine einfachen Lösungen. Immer wieder stößt man auf leere Tische und Flächen – wie als Botschaft der Ausstellungsmacher: Wir hätten gern noch mehr, noch wildere Ideen gehabt. Ich bin sicher, Fortsetzung folgt.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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