Sogar in Bayern ist das ein seltener Anblick. Ich hatte ihn neulich mal wieder: das Schild auf dem langen Wirtshaustisch, dahinter ein Regal mit Steinkrügen. Und hätten nicht sogar fast ein Dutzend Männer an der Tafel gesessen, Schafkopf gespielt und dabei „Schmier ihn“, „Du Radfahrer“ und „Was für an Hund“ gerufen, ich hätte es fast übersehen: ein Stammtisch!
Er ist eine Institution, die so selten geworden ist, dass auch die Rede von der Lufthoheit über den Stammtischen heute wie aus der Zeit gefallen scheint. Das ist insoweit bedeutsam, als der Stammtisch vielleicht die letzte Runde ist, wo bei Speis und Trank im öffentlichen Raum gemeinsam politisiert wird. Das sollten vor allem die nicht unterschätzen, die den Stammtisch als Hort aller Verstocktheit ansehen, als Keimzelle des Populismus, als Unort bar jeder politischen Kultur. Sie liegen falsch.
Man muss sich dafür aktuell nicht nur den Verfall in den sozialen Netzen, den Stammtischen der Postfaktischen, ansehen. Es ist auch gut zu wissen, wo der Stammtisch seine Wurzeln hat: im linken, politisch freigeistlichen Milieu. Mit der Ablösung der Feudalgesellschaft entwickelte sich die Trinkstube zum Ort gesellschaftlichen Austauschs. Erst war es das Café, das eine bürgerliche Öffentlichkeit herstellte. Der Kaffee, dieses Getränk aus den Überseegebieten, stand für das Neue, Weltoffene. Seine anregende Wirkung, bei der man gleichzeitig nüchtern blieb, ermunterte zu Austausch und Gespräch. Dem Adel überließ man die Schokolade. Hier, im Kaffeehaus, wurde der Journalismus aus der Taufe gehoben, und es ist heute noch ein Ort, der ohne eine papierne Zeitung kaum auskommt.
Der Stammtisch entstand in der Zeit der bürgerlichen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts. „In beinahe jeder deutschen Stadt hatte die bürgerliche Revolution ihre Stammtische“, schreibt Georg Wedemeyer, Soziologe und seines Zeichens der wohl bewandertste Stammtischforscher Deutschlands. So hießen die Revolutionäre auch bald „Wirtshausrepublikaner“, Kneipen und Biergärten galten den Herrschenden als potenzielle Widerstandsnester, von Metternich bis zu den Nazis.
An den Stammtischen ist es still geworden. Man kann die Digitalisierung, das allgemeine Rauchverbot, strengere Promillegrenzen dafür verantwortlich machen oder das Wirtshaussterben bei gleichzeitiger Filialisierung der Gastronomie. Einen Stammtisch ohne die freundliche Aufsicht einer strengen Bedienung kann ich mir kaum denken. In meiner Vorstellung handelt es sich dabei idealerweise um eine Frau, eine frühe Community-Managerin also, die nicht nur ein Auge auf den Alkohol-, sondern auch den Geräuschpegel bei Tisch und damit auf das Niveau der Kommunikation hatte. Der Stammtisch, bei dem auch das leibliche Wohl seinen Platz hatte, kommt mir un gleich attraktiver vor als die sozialen Medien. Er muss ein Übungsfeld für Toleranz gewesen sein, sehe ich mir an, wie leicht es einem das Netz macht, Leute mit absolut deckungsgleicher Weltanschauung zu finden und sich auch wieder zu trennen. Am Wirtshaustisch ist das nicht so einfach.
Alkohol ist auch an den neuen Stammtischen im Spiel, wie jüngst der Kolumnist Jan Fleischhauer ganz richtig bemerkt hat, meist nach 24 Uhr, wenn die Unflat im Netz inflationär wird. Die Flasche Bier oder das Glas Rotwein neben dem blau schimmernden Bildschirm: Soll das wirklich die neue Trinkgewohnheit des 21. Jahrhunderts werden? Da ist mir sogar Donald Trump als US-Präsident lieber.
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