Viel Antibiotika, aber ohne Chlor

Der Koch Warum das amerikanische Horror-Huhn sich gar nicht so sehr vom deutschen unterscheidet
Ausgabe 23/2015

Haben Sie auch Angst vor dem Chlorhuhn? Diesem Monster, das im Zuge von TTIP die Einreise nach Europa erlaubt bekäme. Es ist das Übersymbol aller Freihandelsgegner und inzwischen gemästet mit allem, was man zu Recht gegen das Abkommen mit den USA haben kann. Aber haben Sie schon mal eins gegessen? Als ich diese Frage vor kurzem in einer Diskussion gestellt habe, ganz naiv, bekam ich als Reaktion ausschließlich sprachlose, empörte Gesichter. Ein nackter Broiler, abgewaschen mit einer Brühe aus Chlordioxid – es ist, als könnte allein der Gedanke daran, in eine gebratene Chlorhühnerkeule zu beißen, Gesundheitsschäden hervorrufen. Ich will nicht sagen, dass der Vogel das falsche Symbol ist. Aber es ist an der Zeit, diesem schön gruseligen Maskottchen der Anti-TTIP-Gemeinde ein paar Federn zu rupfen.

Vom Chlorhuhn wird geredet wie von einer invasiven Art. Als ob es sich um eine ähnliche Spezies handeln würde wie Kartoffelkäfer, Reblaus, pazifische Auster oder Wollhandkrabbe. Alles Eindringlinge, die, einmal in Europa angelangt, ein verheerendes Eigenleben entwickelt haben. Der bösartigste Migrant war übrigens der Kartoffelkäfer. Er war der Hauptschuldige für die Hungersnot in Irland Mitte des 19. Jahrhunderts.

Damals wurde auf der gälischen Insel kaum etwas anderes angebaut als Kartoffeln. Das Chlorhuhn allerdings wird tot sein, wenn es nach Europa kommt. Es legt keine Eier mehr und kann sich nicht mehr vermehren. Und sehr wahrscheinlich wird man als Verbraucher die Wahl haben zwischen einem Vogel aus Massentierhaltung, turbogemästet und mit Antibiotika vollgestopft, und einem Vogel aus Massentierhaltung, turbogemästet und mit Antibiotika vollgestopft, der kurz mit Chlorlauge abgeduscht wurde. Man kann davon ausgehen: Die Aufkleber „garantiert chlorfrei“ hat die europäische Geflügelzüchterbranche bereits für ihre Packungen gedruckt.

Aber ist das wirklich ein Unterschied? Im Grunde ist das Chlorhuhn nur der Ausdruck eines Kulturunterschieds in der Lebensmittelhygiene. Sein Pendant in Übersee ist der Rohmilchkäse. Den fürchten US-Amerikaner so wie Europäer den Chemiekadaver. Nichtpasteurisierte Milch: Nur ihr Einsatz gestattet es, dass beim Käsen eine Vielzahl von Pilzen und Bakterien angeregt werden. Wenn man es sich genau ansieht, ist das sicher auch für viele Europäer eine ekelerregende Vorstellung. Die sogenannte Lebensmittelsicherheit: Die versucht die europäische Politik vor allem nach dem Farm-to-Table-Prinzip herzustellen. Was größtmögliche Rückverfolgbarkeit aller Zutaten bedeutet: Wenn was schiefgeht, ist der Schuldige schnell gefunden, lautet die Idee.

In Amerika dagegen zählt mehr das Resultat. Also wird das Fleisch von Tieren, die unter großer Bedrängnis in ihren Exkrementen aufwachsen, eben desinfiziert, um Salmonellen und Kolibakterien oder andere Erreger abzutöten. Und das nicht nur beim Hühnerfleisch. Brüssel hat bereits 2013 erlaubt, dass Rindfleisch nach dem Schlachten mit Milchsäure gewaschen wird, so wie es in den USA Standard ist. Denn die hiesige Rindfleischindustrie will endlich auch wieder nach Übersee exportieren.

Wer gegen das Chlorhuhn argumentiert, setzt sich zuallererst für europäische Hygienestandards ein. Es sind aber ebenfalls Standards einer Nahrungsmittelindustrie. Und falls Sie fragen: Natürlich habe ich schon Chlorhuhn gegessen. Ich bin nicht krank geworden. Es schmeckte genauso fad und geschmacklos wie ein europäisches Huhn.

Jörn Kabisch schreibt als Der Koch für den Freitag regelmäßig über Küchen- und Esskultur

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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