Jetzt drohe ein „Strompreis-Schock“, titelte das Handelsblatt. Allerdings nicht dieser Tage, sondern im Sommer 2021. Damals war die führende deutsche Wirtschaftszeitung „geschockt“, weil sich der Strompreis im Großhandel innerhalb eines Jahres verdoppelt habe, auf 70 Euro die Megawattstunde, das sind umgerechnet sieben Cent pro Kilowattstunde.
Sieben Cent für die Kilowattstunde? War da nicht was? Das Land Niedersachsen fordert seit dem Frühjahr einen „Transformationsstrompreis“ für die energieintensive Industrie von eben sieben Cent. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) schlägt vor, Firmen für 80 Prozent ihres Stromverbrauchs sechs Cent zu garantieren.
Meist berufen sich die Befürworter – darunter auc
orter – darunter auch die geschlossen nach Brüssel gepilgerten deutschen Ministerpräsidenten – auf die gefährdete Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Ebendieses Argument hält seit Jahrzehnten dafür her, energieintensiven Betrieben Privilegien beim Strompreis zu verschaffen. Zum Beispiel niedrigere Netzentgelte: Normale Haushaltskunden mussten 2021 dafür etwa 7,5 Cent pro Kilowattstunde zahlen – Industriekunden nur knapp 2,7 Cent.Energieintensive Unternehmen zahlen auch weniger Steuern auf Strom, sie profitieren von Großkundenrabatten oder Eigenproduktion, was dazu führt, dass ihre tatsächlichen Beschaffungskosten für Außenstehende nicht leicht nachzuvollziehen sind. Aber möglicherweise gibt es ja andere Gründe für die Notwendigkeit eines Industriestrompreises?Joe Biden legt mit Inflation Reduction Act vorNach Meinung der Industrie und auch vieler Politiker:innen ist eine der größten Gefahren für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit der Inflation Reduction Act (IRA) der USA. Der sieht in den nächsten zehn Jahren Ausgaben von 600 Milliarden US-Dollar vor, davon 370 Milliarden für den Ausbau der Erneuerbaren.Wie sehr der IRA in den USA die Kosten für grünen Strom senken wird, hat jetzt eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Das Ergebnis: Durch den IRA werden die Erzeugungskosten für Strom aus Windkraft sowie aus Photovoltaik um etwa 1,5 Cent bis zwei Cent pro Kilowattstunde günstiger. Die Kosten in Übersee bewegten sich dann vielfach im Bereich der besten deutschen und europäischen Wind- und Sonnenstandorte, stellt die Studie fest. Für den wissenschaftlichen Direktor des IMK, Sebastian Dullien, haben die Förderungen durch den IRA trotzdem das Potenzial, die Gestehungskosten für Strom aus erneuerbaren Energien in den USA signifikant zu senken. Die Absenkung des Strom-Endpreises für die Industrie werde natürlich prozentual deutlich geringer ausfallen, weil zu den Gestehungskosten noch Distributions-, System- und Vertriebskosten kommen, räumt Dullien ein.Doch es gibt einen weiteren Grund, warum der Blick auf die reinen Erzeugungskosten zu kurzsichtig ist: Um damit Geld zu sparen, müssten sich energieintensive Unternehmen in den USA allein mit Wind- und Sonnenstrom versorgen. Das ist mehr als unwahrscheinlich: In den USA kamen 2022 erst 14 Prozent des Stroms aus Wind und Solar. In Deutschland decken Wind und Sonne schon gut ein Drittel des Strombedarfs. Aber selbst damit kann (noch) kein energieintensives Unternehmen seinen Bedarf allein aus Erneuerbaren decken. Das bedeutet: Ein subventionierter Industriestrompreis würde in Deutschland auch klimaschädliche fossile Erzeugung fördern, vor allem die aus Erdgas. Das kritisiert eine Reihe renommierter Experten scharf.Zwischenlösung BrückenstrompreisDer Autor der IMK-Studie, Tom Bauermann, kommt zum Ergebnis: Deutschland ist bei der Wirtschaftlichkeit nachhaltiger Stromerzeugung den USA keineswegs stark unterlegen und zur Deindustrialisierung verurteilt. Trotzdem plädiert er dafür, den Zeitraum zu überbrücken, in dem Subventionen einen starken Anreiz für Unternehmen setzten, in den USA statt in Europa zu investieren: mit einem Brückenstrompreis.Man könnte die Gemengelage so zusammenfassen: Wie hoch die Stromkosten der energieintensiven Industrie tatsächlich sind, ist ungewiss. Zwar werden mit dem IRA die Kosten für Wind und Solar in den USA sinken, aber eine Unterlegenheit Deutschlands droht nicht. Dennoch soll ein subventionierter Strompreis für die Industrie her. Dass ein gewerkschaftsnahes Institut aus begrenzt aussagefähigen Daten zu einem solch offen lobbyistischen Schluss kommt, könnte einen dann auch „schockieren“.