RAF-Gerichtssaal in Stammheim wird abgerissen: Der Kampf ist vorbei, Holger
Terrorismus Der Rückbau jenes „Mehrzweckgebäudes“ in Stuttgart-Stammheim, wo der Prozess gegen die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) stattfand, hat begonnen. Ein letzter Besuch
Die Verteidigung um Jutta Bahr-Jendges, Otto Schily und Hans Heinz Heldmann 1977
Foto: Sven Simon/Imago Images
Kahle Mauern, verschlissene Lederdrehstühle, ein schallgedämpfter Raum mit abgegriffenen Kommentaren zur Strafprozessordnung und ein Schlüssel hinter Glas für den Fall einer Geiselnahme: Alles hier erzählt von früher und wird demnächst von den Häusern der Geschichte in Stuttgart und Bonn übernommen werden. Oder doch den Baggern zum Opfer fallen? Die Erinnerungen leben auf an diesem sonnigen Vorfrühlingstag, bei einem letzten Rundgang durch das Mehrzweckgebäude in Stammheim, vor Jahrzehnten berühmt geworden durch die Terroristen der „Rote Armee Fraktion“ (RAF). Kurz darauf begann der Abriss.
Tanja Stahlbock kennt sämtliche Details zu den anstehenden Arbeiten: dass die Abrissbirne nicht zum Einsatz kommt, weil zu vie
eil zu viele Schadstoffe verbaut worden sind auf den gut 600 Quadratmetern. Dass die Außenhaut noch nicht abgerissen werden kann, weil sich in den Wänden Vögel zur Brut niedergelassen haben und die bis Ende September geschützt sind. Und dass für die sechs Meter lange Anklagebank ein Sondertransport organisiert werden muss. Von der Feindseligkeit, die damals zwischen den Prozessbeteiligten herrschte, weiß die Fachfrau der baden-württembergischen Hochbauverwaltung allerdings nichts. Das gilt für fast alle Nachgeborenen.Placeholder image-1Vorn, unter dem Landeswappen im Verhandlungssaal, saßen im ersten großen RAF-Verfahren die Richter. Links nahmen die Bundesanwälte aus Karlsruhe Platz. Rechts die Wahlverteidiger von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die als erste von drei Generationen die RAF kommandierten. Das taten sie sogar von ihren Zellen im benachbarten Knast aus. In denen saßen sie wegen des Vorwurfs des vierfachen Mordes – begangen unter anderem an zwei Soldaten aus dem Frankfurter US-Hauptquartier für Europa, die von Autobomben getötet worden waren. Verantwortung dafür übernahmen die Angeklagten nicht.Eine Reihe junger Linksextremist:innen hatte sich zum Krieg gegen die Bundesrepublik aufgemacht. Sie waren davon überzeugt, das Land als „Kolonie des US-Imperialismus“ durchschaut zu haben, als einen Staat, der die Länder der „Dritten Welt“ ausplünderte, den völkerrechtswidrigen Vietnam-Krieg der Amerikaner unterstützte, Führungspositionen in Politik und Wirtschaft mit Altnazis besetzte und gewöhnlichen Bürgern im kapitalistischen System nur mehr die Wahl ließ, „entweder Schwein oder Mensch“ zu sein.Hinrichtung von Holger Meins auf RatenZum Äußersten trieb diese fatale Losung Holger Meins, der beim dritten Hungerstreik der Häftlinge aus der ersten RAF-Generation im November 1974 starb, weil die Justiz sich keineswegs so um ihn kümmerte, wie es geboten gewesen wäre. Anderntags wurde Berlins Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann erschossen, wohl als Racheakt. Am Grab von Meins rief Rudi Dutschke sein berühmt gewordenes „Holger, der Kampf geht weiter!“.Nicht nur hier im Saal wurden Fronten aufgebaut. Die RAF agitierte mit dem Foto des völlig abgemagerten Toten, RAF-Anwalt Otto Schily, der 30 Jahre später im Kabinett von Gerhard Schröder (SPD) Innenminister wurde, sprach von einer „Hinrichtung auf Raten“, und in der linksintellektuellen Szene von Hans Magnus Enzensberger bis Ekkehart Krippendorff wurde eine Debatte über Legitimität und Zweckmäßigkeit von Gewalt geführt.Ein halbes Jahr nach dem Tod von Holger Meins begann in der Mehrzweckhalle von Stammheim der später so genannte „große Baader-Meinhof-Prozess“. Das politische Klima war nicht nur in dem Saal, sondern auch in der gesamten Bundesrepublik extrem aufgeheizt, eifrig befeuert von der Springer-Presse. Es entwickelte sich ein über 192 Sitzungstage währender, oft hässlicher juristischer Kampf, der von der ruhigen Verlesung langatmiger Schriftstücke der Angeklagten immer wieder unterbrochen wurde. Zutage trat die zynische Militanz „narzisstischer Amateure“, wie der Spiegel damals schrieb. Die RAF verweigere sich der Frage nach Verhältnismäßigkeit und Erfolgsaussichten ihres blutigen Treibens stur.Mal beleidigten die Angeklagten, zumal wenn sie von der Verhandlung ausgeschlossen werden wollten, die Richter. Andreas Baader zum Vorsitzenden Prinzing: „Du faschistisches Arschloch!“ Ein anderes Mal piesackten die Wahlverteidiger um Schily den Senat mit 84 Befangenheitsanträgen und lieferten sich mit kaum weniger boshaften Anklagevertretern der Bundesanwaltschaft heftigste Rededuelle voller Kränkungen und Unterstellungen. Hinter den Kulissen trug Gudrun Ensslin brieflich ihre unbarmherzige Rivalität mit Ulrike Meinhof aus. Unter anderem, weil sie „die Prinzipien, also den Kampf, Deinen Fotzenbedürfnissen, dem Überleben“ unterordne.Nicht alles kann ins MuseumAls die einstige linke Star-Journalistin Meinhof sich am Muttertag 1976 in der gegenüberliegenden JVA erhängte, hatte die Verwandlung der RAF in eine militante Terrorgruppe längst begonnen. Wenig später ermordete diese den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, ebenso wie den zuvor entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und den Bankmanager Jürgen Ponto. Jenem ersten RAF-Prozess im Stuttgarter Norden folgten viele weitere, darunter die gegen Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Peter-Jürgen Boock.An einer der Innenwände, weder vom Publikum noch von den Zeugenbänken aus zu sehen, hat Klaus Pflieger, später Baden-Württembergs langjähriger Generalstaatsanwalt, als Anklagevertreter im ersten Boock-Prozess Anfang der 1980er-Jahre hoch oben an der Wand eine seltsame Tradition begründet. Wie Häftlinge, die ihre Hafttage mit Kreidestrichen markieren, dokumentierte er jeden Sitzungstag in Pastell. Immer neue Anklagevertreter nahmen die Idee auf. Nicht nur die RAF-Verfahren sind so festgehalten, sondern solche gegen Rockerbanden und Rechtsradikale, gegen PKK-Funktionäre oder Aktivisten von Ansar al-Islam.Placeholder image-2Tanja Stahlbock berichtet, dass ausgerechnet die in eine meterbreite Riesengrafik gegossene Zeitgeschichte nicht überleben kann. Museen hätten die Übertragbarkeit geprüft, aber die Kreide überstünde den Ab- und Wiederaufbau nicht. Gerade Pflieger bedauert den Abriss übrigens nicht: „Man muss einen Schlussstrich ziehen“, sagt er in einem der Gespräche über die versunkenen Zeiten. Es gebe andere Möglichkeiten, der Opfer des Terrorismus zu gedenken, und über den Saal sei die Zeit hinweggegangen.Über die RAF nicht. Dafür hat sie zu viele schlimme Spuren hinterlassen. Nicht nur die 60 Menschenleben, die der Konflikt kostete. Es gibt noch ein Problem: Dass die Bonner Politik und insbesondere die Stammheimer Gerichtsbarkeit sich oft hilflos zeigten, oft unsouverän und oft höchst parteiisch, hat Ansehen gekostet und Misstrauen gegen das Justizsystem gesät. Dasselbe gilt für die deutsche Linke, deren Echo auf die dort verhandelten schweren Straftaten allzu oft sehr zögerlich ausfiel. In einem Briefwechsel mit Rudolf Augstein hat wiederum Rudi Dutschke kurz nach Holger Meins’ Tod Klartext verfasst: „Der Terrorismus behindert jeglichen Lernprozess der Unterdrückten und Beleidigten.“