Vor 20 Jahren bekam ich ein Paket aus dem Osten. Freund A. aus Quedlinburg in Sachsen-Anhalt schickte mir Dinge, die ich – mit Ausnahme von Berlin und Potsdam noch nie im Osten gewesen – seiner Vermutung nach nicht kannte, aber kennen sollte. Hallorenkugeln, Halberstädter Würstchen, Krügerol-Hustenbonbons, Bautz‘ner Senf: Produkte und Marken, die die Wende überlebt hatten und nun Anker einer ostdeutschen Identität unter neuen Bedingungen waren.
Zwei Jahrzehnte später habe ich aufgeholt und bin in Thüringen unterwegs, einem kleinen Bundesland, das aber mit seinen allgegenwärtigen Klößen und Bratwürsten viel kulinarisches Selbstbewusstsein zeigt.
Auf dem Erfurter Domplatz kaufen am Mittag ältere Damen regionales Gem&
zeigt.Auf dem Erfurter Domplatz kaufen am Mittag ältere Damen regionales Gemüse auf dem Markt, zwei jüngere Geschäftsmänner warten hinter mir am Bratwurststand. Während die Wurst fachkundig auf einem Holzkohlegrill hinter dem Jägerzaun zubereitet wird, bestellt man Getränke und andere Speisen nebenan. Auf der handgeschriebenen Speisekarte lese ich, dass es auch Jägerschnitzel mit Tomatensoße und Nudeln gibt. Da ich nicht weiß, wie verwestlicht die Zustände hier in der Landeshauptstadt sein mögen, erkundige ich mich sicherheitshalber.„Ist das ein Ostschnitzel?“, frage ich die Dame hinter der Theke. Neben mir steht Freund J., ein gebürtiger Thüringer aus Greiz. Meine Frage ist ihm peinlich. „Dafür gehörst du gestraft“, sagt er.„Panierte Jagdwurst“, antwortet die Frau ganz ungerührt.„Das Jägerschnitzel schmeckt hier aber auch besonders gut“, bemerkt einer der Männer hinter mir. „Fast so gut wie das Wurstgulasch“, ergänzt der andere. Beide bestellen Heringssalat mit Salzkartoffeln. „Mit deinem rheinischen Singsang verzeiht man dir als Wessi Gottseidank das eine oder andere“, sagt J. und lässt mich seine Vita-Cola aus Schmalkalden zur Jagdwurst probieren.Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt als Wessi bezeichnet wurde. Die kulinarische Rahmung bringt so einiges ans Tageslicht. Ich schicke das Jägerschnitzel und das Foto einer leeren Rotkäppchenflasche in einem Hauseingang an Freund D. in Köln, der ebenfalls aus Thüringen stammt.Worchester Sauce Dresdner Art„Warum wusste ich eigentlich nicht, wie schön es hier ist?“, frage ich. „Ich rede doch von nichts anderem“, antwortet er. „Den Sekt gibt es übrigens auch in Flaschengärung.“In Eisenach essen wir mit Käse überbackenes Würzfleisch vom Huhn – auch ein DDR-Klassiker. Dazu ein Brot, ein Stück Zitrone und selbstredend eine Flasche Worcester Sauce Dresdner Art. Das Gericht ist ein anschauliches Beispiel für die Qualitätssteigerung der letzten Jahre. Zum ersten Mal esse ich eine Variante, die offensichtlich nicht in der Fabrik hergestellt wurde. Das Huhn ist zart, der Käse obenauf so rösch, dass es an eine Crème brûlée denken lässt. Das Restaurant kocht regional und saisonal – und heißt nicht von ungefähr „Heimat“.33 Jahre nach der Vereinigung scheint es weniger darum zu gehen, sich mit dem Label „Ost“ gegen die kulturelle Übermacht aus dem Westen zu behaupten. Das Verhältnis zu Klößen und Bratwurst ist ein anderes geworden, selbstbewusster eben. Es geht um gutes Essen und regionale Traditionen und das ist doch mal etwas, was man sich für ganz Deutschland wünschen würde.