Yossi Schnaiders Stimme ist schwach und monoton. „Ich bin wie ein Roboter“, sagt er am Telefon. Yossi Schnaider lebt im Zentrum Israels, der Großteil seiner Familie im Süden. Genauer: im Kibbuz Nir Oz, das in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober von der Hamas überfallen wird. Als er an diesem Tag vom Raketenalarm geweckt wird, ist ihm schnell klar: „Dieser Angriff ist anders“. Weil er von seiner Familie nichts hört, greift Yossi Schnaider zu seinem Handy und beginnt zu suchen. Was er auf einem der vielen Telegram-Kanäle, die von der Hamas als Sprachrohr verwendet werden, sieht, lässt ihn bis heute nicht los. Yossi Schnaider wird Zeuge, wie seine Tante, sein Onkel, seine Cousine, ihr Mann und die beiden Kinder – das eine vi
Zur Zeugenschaft gezwungen: Wie Juden und Israelis mit den Bildern des Terrors umgehen
7. Oktober Die Hamas hat ihre Gräueltaten gefilmt, um allen Juden klarzumachen: Ihr seid nirgendwo sicher. Gleichzeitig geben die Bilder Aufschluss über den Verbleib Verschleppter und können der Aufklärung dienen. Wie soll man also mit ihnen umgehen?
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Foto: Christopher Furlong/Getty Images
sein Onkel, seine Cousine, ihr Mann und die beiden Kinder – das eine vier Jahre, das andere 9 Monate alt – von der Hamas gewaltsam entführt werden. Er sieht die Todesangst im Gesicht seiner Cousine und er sieht die beiden Kinder auf ihrem Arm: „Da war Blut auf ihren Kleidern und Blut an den Händen der Entführer.“ Zwei Wochen später findet die israelische Armee die Leichen seiner Tante und seines Onkels. Die Hamas hatte sie auf dem Weg in den Gazastreifen erschossen. Ihre Leichen ließen sie hinter zwei Büschen liegen.Seitdem ist Yossi Schnaider unter Schock. Er kann nicht aufhören, sich durch die Vielzahl an Videos zu klicken; sieht Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Kinder, die vor den Augen ihrer Eltern ermordet werden. Alles, um weiter nach Indizien, nach Hinweisen zu suchen, die ihm und der Armee verraten, wo sich seine entführten Familienmitglieder befinden – und ob sie noch leben. Schnaider kann nicht abschalten. Auf die Frage, ob er das, was er gesehen hat, jemals wieder vergessen wird, antwortet er: „Ich will nicht vergessen. Ich will erinnern.“Psychologe Alon Dinur: „Trauma-Routine“ und „Resilienz“Wie Yossi Schnaider geht es vielen Israelis. Besonders denen, die noch immer um Familie und Freunde in Gaza bangen. Sie können sich vor der Flut der Bilder des Terrors nicht schützen. Bilder, die selbst zum Mittel des Terrors geworden sind. Angehörige von Verschleppten berichten, dass ihnen Terroristen gezielt Aufnahmen zusenden, die den Mord und die Entführung ihrer Familienmitglieder und Freunde dokumentieren – sie verhöhnen. Entmenschlichende Verachtung, Traumatisierung und ein Gefühl der permanenten Bedrohung auszulösen, das ist Sinn und Zweck der psychologischen Kriegsführung der Islamisten. Yossi Schnaider möchte dem etwas entgegensetzen. Er möchte den Zwang zum Hinsehen zum Guten wenden: „Es ist etwas, das uns als Israelis und Juden zusammenschweißt. Etwas, das Israel irgendwann besser machen wird. Besser als es vor diesem Samstag war.“Diese Hoffnung teilt auch Alon Dinur. Vor dem 7. Oktober beriet der in Israel zum Psychologen ausgebildete Coach in seiner Berliner Praxis vor allem Paare, auch jüdisch-muslimische. Seit knapp zwei Monaten empfängt er insbesondere Israelis. Die, die schon länger in Berlin sind und die, die wegen des Krieges gekommen sind. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen unterstützt er die Community mit psychologischer Beratung. Er hat selbst einige Zeit in einem Kibbuz nahe Sderots gelebt und geforscht, einem der Hauptorte der Massaker vom 7. Oktober. Er kennt die Menschen in den angegriffenen Kibbuzim gut: „Liberale, Linke und Akademiker“ – wie viele der Israelis, die in den letzten Jahren Berlin als Lebensmittelpunkt gewählt haben. Sie fühlten sich seit dem 7. Oktober oft isoliert und unverstanden von den Menschen um sie herum. Alon Dinur hört eine Frage oft: „Do the people around me understand?“Placeholder image-1Einerseits sieht Dinur den Konsum der Bilder kritisch: Für ihn stehe hinter dem Zwang hinzusehen vor allem ein „Gefühl der Schuld“. Ein Gefühl, nicht helfen zu können, nicht vor Ort zu sein und nicht anders Anteil nehmen zu können – Ohnmacht. Bei den von ihm betreuten Israelis führe das auch zu einer Art Sucht und zu Überkonsum. Das Resultat? Stress, Panikattacken, Depressionen und die Verstärkung bestehender Symptome. Das Anschauen von beängstigenden und traumatisierenden Inhalten löse physische und psychische Impulse aus, die in der Passivität des Zusehens nicht verarbeitet werden – so der Psychologe. Dafür wählt Alon Dinur den Begriff „Trauma-Routine“. Einen Begriff, den er auch allgemein auf die israelische Gesellschaft anwendet: der Umgang mit der Alltäglichkeit des Terrors.Man solle sich fragen: „Warum schaue ich mir das an?“Dies bedürfe aber bewusst gesetzter Grenzen – das gälte für ihn selbst wie für seine Klienten. Verbieten, hinzusehen, will Dinur ihnen jedoch nicht. Sie sollten sich viel eher fragen: „Warum schaue ich mir das an?“, und „Hilft es den anderen, dass ich mir das anschaue?“ Die Idee dahinter? Den Schockimpuls der Bilder in eine positive Perspektive umlenken.Alon Dinur nimmt sich selbst als Beispiel. Als er die Bilder der Terroristen auf weißen Toyota Pick-Up-Trucks sah, kam in ihm ein ungekanntes Gefühl auf: „Es gibt keinen sicheren Hafen mehr. Nirgendwo.“ Um diesem Gefühl zu begegnen, schloss er sich mit anderen Israelis in Berlin zusammen. In der gemeinsamen Beschäftigung mit dem Schmerz und den Bildern, in der Unterstützung für einander sieht er sowohl in Israel als auch in Berlin einen „Kraftakt der Zivilgesellschaft“. Dabei weist er auch den Bildern, die aus Israel unmittelbar in die Newsfeeds in Berlin drangen, eine Bedeutung zu. Sie würden das Gefühl des „Zusammenhalts“ vor allem unter Israelis und Jüdinnen und Juden stärken. Ein Zusammenhalten im Angesicht der Gräuel. Die Bilder des Hasses können auch, wie er betont, „Resilienz“ stärken.Den Zusammenhalt wollen auch Bettina Leder und Elieser Zavadsky stärken. Seit dem 7. Oktober sind sie eine Art Schaltzentrale zwischen den Angehörigen von Geiseln in Israel, Jüdischen Gemeinden und den Medien in Deutschland. Beharrlich verfolgen sie zwei Ziele: Alles zu tun, damit die Geiseln befreit werden. Und: dafür zu sorgen, dass ihre Geschichten und die ihrer Angehörigen nicht in Vergessenheit geraten.Elieser Zavadsky: „Erst seit drei Tagen spüre ich, dass ich spüren kann“Nur die Arbeit biete ihnen Ablenkung von dem Leid, erzählen sie im Gespräch. Langsam lasse der „Schockzustand“ der letzen Wochen nach. „Erst seit drei Tagen spüre ich, dass ich spüren kann“, sagt Elieser Zavadsky. Bettina Leder ergänzt: „Mit der bewussten Entscheidung, Abstand zu nehmen, kommen die unkontrollierten Momente“, in denen sie von Bildern und Gefühle überfallen würde und anfange zu weinen.Elieser Zavadsky setzt sich den Bildern auf Sozialen Medien wie Facebook bewusst aus. Als er die Geschichten der Familien im Süden Israels zum ersten Mal hört, will er ihnen keinen Glauben schenken: „Eine Stimme in mir sagte, es könne nicht so schlimm sein.“ Diese Stimme, so meint er nachdenklich, habe er das letzte Mal im Kindesalter gehört, als ihm seine Eltern und Großeltern von ihrer Verfolgung in der Shoah erzählten. Erst als er die Bilder von Noa Marciano sah, einer 19-jährigen Soldatin der israelischen Armee, die Terroristen der Hamas entführten, ermordeten und dann filmten, fiel sein innerer Widerstand. Ein bitteres „Ja, es ist so schlimm“ gab der Stimme des Zweiflers in ihm eine Antwort. Für den Frieden will er dennoch weiterkämpfen: „Der Hass ist ein Luxus, den ich mir nicht erlaube.“Placeholder image-2Trotz persönlich gesetzter Grenzen plädiert Bettina Leder – selbst Tochter eines Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung – dafür, „Filter auszuschalten und wahrzunehmen, was passiert ist.“ Die Welt müsse vom „Ausmaß des Grauens“ erfahren. Was der Anblick dieses Grauens mit den Menschen macht, treibt sie immer wieder um. Die Weite des Dilemmas des Bilderkonsums durchmisst sie mit einer weiteren Frage: „Werden wir unsere Menschlichkeit verlieren?“Gidon Lev löschte TikTok: „Es war einfach zu viel Hass!“Einer, der seit Jahren darum kämpft, dass diese Menschlichkeit auch Jüdinnen und Juden zugestanden wird, ist Gidon Lev. Der 88-Jährige überlebte als Kind das Ghetto von Theresienstadt, ein Großteil seiner Familie wurde von den Nazis ermordet. Gemeinsam mit der Autorin Julie Grey setzte er sich seit 2021 auf Instagram und TikTok gegen Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit ein. Ein paar Wochen nach dem 7. Oktober beschloss er, seinen fast 500.000 Followern den Rücken zu kehren und deaktivierte die App: „Es war einfach zu viel Hass! Zu viel Antisemitismus!“Gidon Lev lebt in Ramat Gan bei Tel Aviv, ein Telefonat mit ihm braucht drei Anläufe. Die ersten zwei werden durch Raketenalarm und die Flucht in den Schutzkeller unterbrochen. Auch in ihm lösten die Bilder des Terrors Erinnerungen an den Holocaust aus: „Auch wenn ich nur wenig bewusste Erinnerungen an Hinrichtungen und Massenmorde im Ghetto von Theresienstadt habe, sah es für mich aus, als ob die Hamas von Nazikommandanten ausgebildet wurde.“ Damit meint er vor allem die Hinrichtungen und das gezielte Töten von Jüdinnen und Juden, weil sie Jüdinnen und Juden sind.Auch wenn er „Mitleid mit den palästinensischen Opfern dieses Krieges“ habe, dürfe nicht in Vergessenheit geraten, dass es eben die Hamas sei, die mit genozidaler Absicht töte, nicht Israel. Dass dieser Unterschied nicht mehr wahrgenommen werde, liegt für ihn in der Verantwortung der sozialen Medien, wo Bilder des palästinensischen Leids mit „Halbwahrheiten oder Lügen“ über Israel verbunden würden.Ziel der Hamas: Assoziationen zum HolocaustTobias Ebbrecht-Hartmann, Filmhistoriker und Professor an der Hebrew University in Jerusalem, beschäftigt sich mit genau diesen Lügen. Er forscht zu Antisemitismus auf TikTok, aber auch zur „Visual History of the Holocaust“ – so der Titel eines Forschungsprojekts, das er bis März leitete. Da viele seiner Studierenden in der Armee kämpfen, wurde der Semesterstart in Jerusalem ausgesetzt.Auf Einladung der israelischen Botschaft in Berlin sah er am 7. November einen Zusammenschnitt von Bodycam-Videos der Hamas, Drohnen-Aufnahmen der israelischen Armee und Zeugenvideos von Ersthelfern des Nova-Festival-Massakers. Diese gewaltvollen Inhalte hatte die israelische Regierung bewusst nicht veröffentlicht, um die Würde der Opfer und ihrer Angehörigen zu schützen. Was hier mitschwingt, ist auch die Frage, wessen Bilder wir sehen – wessen Perspektive wir einnehmen. Im Fall des 7. Oktober ist das recht klar: die der Hamas, die der Täter. Unklar bleibt, wie damit umzugehen ist. Die kritische Debatte der Bildwissenschaften über Täterbilder des Holocaust, die seit Jahren anhält, muss hier erst noch geführt werden.Placeholder image-3An einigen Stellen habe er den Blick abwenden müssen, erzählt Ebbrecht-Hartmann. Was er aber gesehen habe, sind „junge Hamaskämpfer“, die „aufgeregt und stolz in die Kameras lachen“, während im weiteren Verlauf des Films – durch die Auswahl der Bilder miteinander in Beziehung gebracht – „die von Todesangst verzerrten Gesichter junger Israelis“ erscheinen. In dieser Verdichtung ein haunting image, das die grausame Botschaft des Bilderterrors der Hamas in sich trägt: „Es wird keinen Ort geben, an dem ihr sicher seid.“ Diese Botschaft richtet sich bewusst an alle Israelis und Jüdinnen und Juden weltweit. Ebbrecht-Hartmann sagt, es seien bestimmte Bilder, wie die von gedemütigten Holocaustüberlebenden oder gezielten Exekutionen, vor allem aber „die grausame Entscheidung, die Menschen teilweise bei lebendigem Leibe zu verbrennen“, die darauf abzielten, „Assoziationen zu den Bildern des Holocaust“ hervorzurufen.Unbeteiligten droht „sekundäre Viktimisierung“Davon ist auch Marina Chernivsky überzeugt. Die Psychologin ist Gründerin und Geschäftsführerin der ersten Fachberatungsstelle in Deutschland, die sich auf Antisemitismus und Community-orientierte Beratung spezialisiert – OFEK e.V. – und leitet das Kompetenzzentrum für Bildung und Forschung in Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Dieser Tage ist es schwer, einen Gesprächstermin mit ihr zu bekommen. Sie und ihr Team arbeiten seit dem 7. Oktober im Krisenmodus – die antisemitischen Übergriffe in Deutschland haben stark zugenommen.Sie sieht in diesen Bildern vor allem Katalysatoren für eine biografische und geografische Verschränkung: „Diese Bilder triggern die traumatische Vergangenheit und versetzen Juden weltweit in die Position der Zeitzeugenschaft.“ Bilder riefen starke Gefühle hervor, deren Wirkung „irreversibel und invasiv ist“. Bilder, wie die des Terrors der Hamas seien imstande, selbst bei Unbeteiligten eine „sekundäre Viktimisierung“ und so auch Traumata auszulösen.Placeholder image-4Hierbei würden die „äußeren Bilder“ der Gewalt ein zynisches Spiel mit den „inneren Bildern“ von Jüdinnen und Juden spielen – ein „individuell, wie kollektiv angelegtes Bildarchiv“, das über neue „Trigger“ geöffnet werde. Zweifellos findet man in diesem Archiv „Bilder der Schoa“, aber für Marina Chernivsky persönlich auch Bilder aus ihrer eigenen Militärzeit in Israel und der „Terroranschläge der späten 90er“. Dabei müssten es noch nicht einmal die Bilder expliziter Gewalt sein, die solch einen Trigger darstellen. Es reiche ein Blutfleck am Boden des Kinderzimmers oder die Ansicht eines Verstecks in den angegriffenen Häusern im Süden Israels.Marina Chernivsky: „Wir legen neue Archive an“Neue Bilder überlagern sich in diesem Archiv mit alten: „Sekundäre Traumatisierung“, nennt die Psychologin als mögliche Folge. Die grundlegenden „Sicherheitsüberzeugungen“ würden angegriffen, posttraumatische Reaktionen wie Panikattacken werden ausgelöst. Ein Zustand, der sich individuell ausprägt, aber auch zum kollektiven Phänomen werden kann – eines, das Israel als Nation und Jüdinnen und Juden weltweit seit dem im Klammergriff hält.Marina Chernivsky nimmt aber auch die Menschen in Gaza in den Blick: „Viele Menschen dort sind dauerhaft traumatisiert.“ Über die Folgen dieser Traumatisierung und ihre Bedeutung für die Wahrnehmung des Konflikts, ist sie sich unsicher. Hier spiele auch die Korruption von Kontextualisierungen der Bilder durch Fehl- und Desinformation eine Rolle. Ob der Anblick der Bilder zu mehr Empathie für israelische Opfer führen und vielleicht sogar antisemitische Voreinstellungen unterwandern könne? Marina Chernivsky ist da eher pessimistisch: „Viele Menschen haben ihr Verhältnis zu Jüdinnen und Juden bereits geregelt – im kollektiven Sinne geregelt.“ Gemeint ist damit Abneigung oder gar Hass.Diese Desillusionierung schwingt auch mit, wenn Chernivsky von „Übersättigung“ und „Erfahrungsresistenz“ der Mehrheit hier in Deutschland spricht. Wahrnehmung und Erinnerung sind selektiv: Während die Mehrheit nicht mehr hinschauen möchte, bleiben Jüdinnen und Juden, ob inner- oder außerhalb Israels, Zeugen gegen das Vergessen. Oder wie Marina Chernivsky sagt: „Wir legen neue Archive an.“
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