Angriff auf jüdisches Leben: Vergleichen und verstehen
Antisemitismus „Nie wieder“ beginnt damit, dass man die historischen Fakten vermittelt: Was der Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 und seine Folgen für Holocaustforschung und Erinnerung in Deutschland bedeuten
Historisch fundierte Antisemitismusbekämpfung heißt: Erinnern und nach dem Zusammenhang mit der Gegenwart fragen
Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz
Auf TikTok empörte sich vor Kurzem der AfD-Abgeordnete Hans-Thomas Tillschneider aus Sachsen-Anhalt, Israel bestrafe kollektiv alle Palästinenser für die Verbrechen der Hamas und ergänzte: „Genau das Gleiche gilt für die Deutschen und den Holocaust. Man kann nicht das ganze deutsche Volk zur Verantwortung ziehen für die Verbrechen einiger weniger“ und die Behauptung aufstellen, „wir Deutschen seien verantwortlich für den Holocaust.“
Wenn es um Kritik an Israel geht, kommt diese selten ohne Bezug auf den deutschen Umgang mit dem Holocaust aus. Das brachte auch ein Slogan zum Ausdruck, der in der Nähe einer am 9. November 1938 zerstörten Synagoge in Berlin-Schöneberg Anfang November an eine Wand geschmiert war: „G
: „Germany moves from guilt to guilt. Free Palestine.“ Ähnliche Parolen waren auch aus dem Kunst- und Kulturbereich zu hören. Ein denkwürdiges Beispiel lieferten außerdem deutsche und internationale Studierende, die, auf Videomitschnitten verewigt, bei einer Mahnwache vor dem Auswärtigen Amt im Oktober immer wieder die Parole „Free Palestine from German Guilt“ skandierten.Die Rhetorik der Rechten vom „Schuldkult“ der Deutschen scheint sich zunehmend gesellschaftsübergreifend breitzumachen, was sich bereits im Text des australischen Genozid-Forschers A. Dirk Moses aus dem Jahr 2021 andeutete, in dem er den Holocaust als das „heilige Trauma“ der Deutschen bezeichnete. Mit Blick auf die Ereignisse in Israel wird „den“ Deutschen nun ihre vermeintlich bedingungslose Unterstützung Israels zum Vorwurf gemacht, die sich letztlich aus nicht verarbeiteten Schamgefühlen und einem schlechten Gewissen aufgrund der unzureichenden Konfrontation mit deutscher Täterschaft speise. Die mühsam erkämpfte Erinnerung an die Verbrechen des Holocaust versperre, so die groteske Argumentation, also den Blick auf neue Gewaltverbrechen und deren angemessene Bewertung.Zweifellos gibt es Unterschiede in der Art, wie Erinnerungskultur von rechter oder vermeintlich progressiver Seite kritisiert und angegriffen wird. Während in klassisch rechten Diskursen die Solidarisierung mit Palästina instrumentalisiert wird, um eigene Erinnerungsabwehr zu garantieren und den Holocaust durch Vergleiche mit vermeintlichen Untaten Israels zu relativieren, geben andere Rechtsextreme mitunter vordergründig Solidarität mit Israel vor, um ungestört eigene rassistische Inhalte zu pflegen.Störfaktor HolocaustIn mancher linken Wahrnehmung fungiert der Holocaust wiederum als Störfaktor einer ungebrochenen Parteinahme für die Anliegen der palästinensischen Nationalbewegung und eine entsprechend ungebremste „Israelkritik“. Dieser Störfaktor wird auf verschiedene Weise bekämpft: Entweder, indem die Bedeutung des Holocaust minimiert werden soll, beispielsweise durch die Infragestellung seines präzedenzlosen Charakters, oder indem die Erinnerung an den Holocaust als provinzielle Marotte der Deutschen oder sogar als exkludierender Rassismus umgedeutet wird. Auch dahinter steckt die alte Forderung, endlich einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zu ziehen.Was historisch fundierte Bekämpfung von Antisemitismus bedeutet, bringt die israelische Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in einer Rundmail auf den Punkt: „Nie wieder beginnt damit, dass man die historischen Fakten vermittelt.“ Dieser Grundbedingung, an den Holocaust zu erinnern und gleichzeitig zu fragen, in welchem Zusammenhang Vergangenheit und Gegenwart zueinander stehen, muss eine Schlüsselrolle zukommen.Über Jahrzehnte haben Forschung und Erinnerungskultur ein Verständnis von der Präzedenzlosigkeit des Holocaust vermitteln können. Dabei ist das Spezifische in der systematischen Realisierung des Völkermords an den europäischen Jüdinnen und Juden nur im Vergleich mit anderen, auch kolonialen Massenverbrechen der Vergangenheit überhaupt wahrzunehmen. Eine zuweilen bemühte „Unvergleichlichkeit“ des Holocaust beruht dagegen auf dem Missverstehen des Unterschieds zwischen Vergleich und Gleichsetzung. Gerade als wissenschaftliche Methode sind Vergleiche allgegenwärtig und unverzichtbar.Nicht zuletzt der im Gewahrwerden der nationalsozialistischen Massenverbrechen formulierte Imperativ eines „Nie wieder“ ist unbedingt auf den Vergleich einer Gegenwart mit der verheerenden Vergangenheit angewiesen, andernfalls würde Gedenken in bloßer Symbolpolitik münden. Damit bedeutet das „Nie wieder“ automatisch ein „Nie wieder ist jetzt“, mit der stetigen Notwendigkeit, sich den mörderischen Konsequenzen eines eliminatorischen Antisemitismus oder anderer verhängnisvoller Vorurteilsmuster entgegenzustellen.Absolute Vernichtungsintention der HamasVergleiche sowie die analytische Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten und den von ihnen realisierten Massenverbrechen versetzen uns in die Lage, den 7. Oktober eindeutig nicht als „neuen“ Holocaust zu begreifen, wie das im frühen Entsetzen mitunter suggeriert wurde. Sehr wohl wird so aber die beispiellose Massengewalt der Hamas und die darin artikulierte absolute Vernichtungsintention erkennbar.Stattdessen wird in Medien und auf Demonstrationen zunehmend behauptet, Israel verübe mit seinem Militäreinsatz im Gazastreifen einen Genozid an der dortigen Bevölkerung. Der renommierte Holocaustforscher Omer Bartov fand jüngst breite Beachtung mit seiner Argumentation in der New York Times, dass derlei zumindest drohe. Dazu zog er zu Recht kritisierbare und unakzeptable Äußerungen einzelner israelischer Politiker und Militärs heran. Daraus aber leitete er die Forderung ab, Israel daran zu hindern, einen Genozid an Palästinenserinnen und Palästinensern zu begehen. Nun verweist der Genozid-Begriff des Völkerstrafrechts eindeutig auf die unbedingte Absicht, eine nationale, religiöse oder ethnische Gruppe zumindest teilweise zu zerstören. Das trifft zwar durchaus auf die genozidale Gewalt der Hamas vom 7. Oktober zu, nicht jedoch auf die israelische Kriegsführung im Gazastreifen.Doch alle Bemühungen Israels, zivile Opfer zu vermeiden, werden derzeit gerne bestritten. Gleichzeitig schweigen Protestierende gegen den Gaza-Krieg, von der Straße bis hin zum UN-Generalsekretär, zur genozidalen Gewalt der Hamas und ihrer seit Jahren offen erklärten Vernichtungsabsicht, zum Missbrauch der eigenen Bevölkerung als menschliche Schutzschilde oder der Unterbringung der Terrorinfrastruktur in Kliniken, Schulen, Kindergärten und Moscheen. Die weltweite Manifestation von Antisemitismus nach den Hamas-Massakern des 7. Oktober zeugt also auch von denkwürdiger Täter-Opfer-Umkehr. Was die Hamas in Israel und Gaza anrichtet, sind eindeutige Kriegsverbrechen, was von einer vorgeblich um das Wohl Palästinas besorgten Weltöffentlichkeit jedoch kaum problematisiert wird.Unmenschliche Logik, doppelte Standards und verzerrte Wahrnehmungen sind damit zur Regel geworden. Das eigentliche Problem liegt dabei in der bedenkenlosen Parteinahme, ohne die Folgen für die davon betroffenen Menschen zu reflektieren. Wenn also die notwendige Kritik an der Hamas nicht Teil gegenwärtiger Proteste wird, bedeutet auch der auf vielen Demonstrationen bemühte Ruf „Free Palestine“ de facto nichts anderes, als der Bevölkerung des Gazastreifens weitere Jahre Diktatur und Unterdrückung zuzumuten.Pflicht zum „Heiligen Krieg“ von Izz ad-Din al-QassamSchon bei der historischen Wahrnehmung des Konflikts liegt der Irrtum in der häufig geäußerten Annahme, alles habe mit der Gründung Israels 1948 begonnen. Tatsächlich bildeten sich zentrale Grundbedingungen aber in den drei Jahrzehnten zuvor aus, und vieles davon wirkt bis heute verhängnisvoll nach. In bewusster Abkehr von einer 1920 noch denkbaren Vision eines friedlichen Zusammenlebens entschieden sich radikale Muslime für die Propagierung von Judenhass im Kontext ihrer Versuche eines Nation Building. Izz ad-Din al-Qassam hieß einer der Protagonisten, der als Erster in der Region ab den späten 1920er Jahren eine Pflicht zum „Heiligen Krieg“ als Kampf gegen Juden predigte. Nach diesem frühen antisemitischen Hetzer sind seit 1991 die bewaffneten Banden der Hamas benannt und auch deren selbst produzierte Raketen tragen noch heute dessen Namen.Ein anderer verhängnisvoller Radikaler war Amin al-Husseini. Seit 1921 Mufti in Palästina und damit höchste Autorität in Glaubensfragen, beteiligte er sich entscheidend am Import moderner antisemitischer Ideologieversatzstücke aus Europa und machte damit beispielsweise die Protokolle der Weisen von Zion in der Region hoffähig.Früh versuchte al-Husseini auch die Nationalsozialisten als Bündnispartner für seine Sache zu gewinnen, wobei er radikalen Antisemitismus beständig als Gemeinsamkeit betonte. Von deutscher Seite sind solche Avancen ab den späten 1930er Jahren erhört worden und hatten umfangreiche ideologische, finanzielle sowie militärische Unterstützung zur Folge. Flugblätter in Millionenauflagen und viel gehörte arabischsprachige Radiopropaganda aus Berlin transportierten einen Vernichtungsantisemitismus nationalsozialistischer Prägung in die arabische Welt, wo die unmenschlichen Botschaften teils begeistert aufgenommen wurden. Mit dem Vormarsch von Rommels Divisionen Richtung Palästina im Sommer 1942 schien das Bündnis vorübergehend noch verheerendere Wirkung entfalten zu können. Genau dafür war ein SS-Kommando vorgesehen, das den in Europa längst begonnenen Holocaust in die arabische Welt exportieren sollte. Das heute weitgehend in Vergessenheit geratene Schreckensszenario wurde nur durch Rommels Niederlage in Ägypten nie Wirklichkeit, worauf radikale Fraktionen in der arabischen Welt enttäuscht reagierten.Während dann der Sieg über die Nazis für Europa einen Epochenwechsel bedeutete, fand eine solche Zäsur im Nahen Osten kaum statt. Vielmehr wirkten sowohl der verfestigte Vernichtungsantisemitismus als auch eine Konfessionalisierung und Internationalisierung des Konflikts ungebrochen fort. Solche noch heute prägenden Prämissen sind ohne die historische Wirkung Nazi-Deutschlands kaum denkbar. Das damals entstandene und seit dem 7. Oktober wieder so verstörend wirksame Bündnis von islamistischen Terroristen, Nazis und später hinzugestoßenen Teilen einer globalen Linken sollte alle abstoßen, die für sich noch kritische Reflexionsfähigkeit und Empathie in Anspruch nehmen.Placeholder authorbio-1
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