Als US-Sänger Lenny Kravitz diese Zeilen textete, dachte er sicher nicht an Oberhausen: It Ain’t Over ’Til It’s Over. Doch genau dort versuchte Festivalleiter Lars Henrik Gass bei den diesjährigen Kurzfilmtagen, was sich Lenny Kravitz für die Liebe wünschte: Zu retten, was noch zu retten ist. In Artikeln und Interviews, mit Podien, Diskursprogrammen und kulturpolitischen Reden wurde der universalistische Geist von 70 Jahren Oberhausen beschworen. Eine Beschwörung, die droht zum politischen Ritual zu erstarren – eine Beschwörung unter Vorzeichen.
Denn die standen zunächst schlecht für Oberhausen: Am 20. Oktober 2023 solidarisierte sich Leiter Lars Henrik Gass in einem Facebook-Beitrag des offiziellen Festivalprofils mit den Opfe
rofils mit den Opfern der Hamas-Massaker und rief zur Teilnahme an einer israelsolidarischen Kundgebung auf. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Am 1. November wurde ein Aufruf veröffentlicht, in dem die anonyme wie bedeutungsvoll klingende Gruppe „internationalfilmcommunity“ zunächst Gass als rassistischen Hetzer stigmatisierte, um daraufhin den Boykott des Festivals zu fordern. Man richtete sich insbesondere an „Filmemacher, Verleiher und Kuratoren“. Rund 2.000 mehr oder weniger bekannte Mitglieder der internationalen Filmcommunity schlossen sich dem Aufruf an – er sollte schnell Wirkung entfalten.Fortan wurden internationale Verleiher in Mails und Briefen adressiert und zum Abbruch der Beziehungen zu Oberhausen gedrängt. Filmemacher wie Abraham Ravett, Jury-Mitglied, selbst Jude und in Israel aufgewachsen, wurden wiederum von ihren Verleihern angehalten, Oberhausen zu meiden. Die Einschüchterungstaktik fruchtete, oder wie Lars Henrik Gass sagt: „Die Szene ist klein, solche Gerüchte sprechen sich schnell rum, der Druck auf Einzelne ist hoch“ – elf Verleiher, vor allem aus Großbritannien, den USA, Kanada und den Niederlanden gaben diesem Druck nach. Darunter langjährige Festivalpartner und Szenegrößen wie der Londoner Verleih Lux.Die Aufregung im Festivalteam schien dementsprechend groß. Am Telefon wirkte Lars Henrik Gass in den Tagen vor Beginn des Festivals erschöpft, ja, pessimistisch. Es kam erstmals die Frage auf: „Kann das so weitergehen?“ Eine Antwort sollte er vergangenen Mittwoch direkt am Tag der Eröffnung des sechstägigen Festivals erhalten: Es kann weitergehen. Tagsüber bemühte man sich – teils langatmig – in den Rahmenprogrammen „Tagung“ und „Podium“ darum, wirklich alles als Diskussion abzudecken, was die derzeitigen Debatten um Nahost, Erinnerungspolitik, Kulturförderung und autoritäre Sehnsucht nach einer Welt ohne Widerspruch hergeben. Am Abend folgte dann die mit Bauchschmerzen erwartete Eröffnung.Großer Preis der Stadt Oberhausen für „Chūn Èr shí sān / Spring 23“ von Wang ZhiyiDoch alles ging gut: keine Proteste, dafür ein äußert präsentes Security-Team. Feierliche Reden vom Oberhausener Oberbürgermeister Daniel Schranz (CDU), von NRW-Kultusministerin Ina Brandes (CDU) und zuletzt dem Amtschef von Staatsministerin Claudia Roth, Andreas Görgen. Sie alle beteuerten die Selbstverpflichtung, in Zeiten von Boykott, Parolen und Protest an der Seite von Kunst und Kultur, von ihren Institutionen und Leitern, ergo an der Seite von Lars Henrik Gass zu stehen.Im Zweifel für den Zweifel, schien sich wiederum Gass selbst zu denken: Auf dem Eröffnungspanel mit Soziologin Alexandra Schauer und dem Journalisten Rüdiger Suchsland löste er das kulturpolitische Dilemma in galanten wie zynischen Witzen auf und stellte die Kanzler-Frage von Oberhausen: „Brauchen wir das hier alles noch?“ Eine ironische Antwort, die den Bedeutungsrahmen der Frage abstecken sollte, gab er sich selbst: „Den Nahostkonflikt werden wir heute Abend nicht lösen.“Doch um den sollte es in Oberhausen auch nur am Rande gehen. In der Ruhrpottstadt machte man sich nach allerlei Diskussionen dann doch endlich dazu auf, etwas von dem anzubieten, was Oberhausen seit 70 Jahren auszeichnet: Filme. Die waren oft politisch, aber selten plakativ; stammten aus globalen Krisenregionen und dem niederrheinischen Umland; widmeten sich brennenden Fragen der Gegenwart genauso wie den vergessenen der Geschichte und deckten damit ab, was man zuvor auf Podien zur Diskussion gestellt hatte: den „universalistischen Anspruch“ des Festivals. Der Jury nach zu urteilen hat den in diesem Jahr ein Film besonders erfüllt: Chūn Èr shí sān / Spring 23 (2023) des in London lebenden chinesischen Regisseurs Wang Zhiyi – er erhält den großen Preis der Stadt Oberhausen. Zur Begründung heißt es, der Film besitze die „Fähigkeit, gleichzeitig humanistisch und subtil politisch zu sein“.Trifft man gegen Ende der Kurzfilmtage noch einmal Lars Henrik Gass, ist der sich immer noch nicht sicher, ob und wie es mit dem Festival weitergehen soll. Derweil türmen sich die Schlagzeilen, in denen auch von „Der Katastrophe von Oberhausen“ oder den Kurzfilmtagen als „zionistischem Festival“ die Rede ist. In Oberhausen tut man gut daran, das kulturpolitische Martyrium bald ad acta zu legen und sich auf das zu konzentrieren, wofür man 70 Jahre lang stand: demokratische Kultur und Kino als Erfahrungs- und Möglichkeitsraum, der sich der Logik von Propaganda und politischer Instrumentalisierung entzieht. Es wäre die einzig produktive Lösung für eine anhaltende Kontroverse – möglicherweise sogar ein Vorbild für den gesamten Kulturbetrieb. Dennoch, die Frage nach dem Ende ist gestellt. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass auch im Umbruch eine Weisheit noch gilt: Totgesagte leben länger.